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Eines Abends kam plötzlich das gelbe Wasser heran und stand senkrecht vor dem Dorfe. Der Reiche ließ mit Kanonen darnach schießen. Da wuchs das Wasser wild und umgab rings die Mauern so hoch, daß es bis an die Öffnungen der Zinnen reichte. Das Wasser brauste und zischte und war nahe daran, sich über die Mauern zu ergießen. Da geriet das ganze Dorf in großen Schrecken. Man schleppte den reichen Mann herbei; er mußte niederknien und um Verzeihung bitten. Man versprach ein Schauspiel, es half nichts; man versprach dem Flußgott einen Tempel zu bauen mitten im Dorfe und regelmäßig Schauspiele aufzuführen, da sank das Wasser nach und nach und wich zurück. Das Getreide vor dem Dorf hatte keinen Schaden erlitten; sondern, es gab gedüngt von dem gelben Schlamme, eine doppelte Ernte.


Ein Gelehrter ging einst mit einem Freunde über Feld, um seine Verwandten zu besuchen. Da kamen sie an einem Flußgott-Tempel vorbei, wo gerade ein neues Schauspiel gegeben wurde. Der Freund forderte ihn auf, mit hinzugehen und sich die Sache anzusehen. Sie traten in den Tempelhof, da sahen sie oben an den beiden Vordersäulen zwei grüne Schlangen, die sich um die Säulen gewickelt hatten und den Kopf hervorstreckten, als sähen sie dem Schauspiel zu. In der Tempelhalle stand der Altar mit der Sandschale. Darin lag ein Schlänglein mit goldenem Leib, grünem Kopfe und roten Punkten auf der Stirn. Es hatte den Hals emporgereckt, und seine blitzenden Äuglein waren unverwandt nach der Schaubühne gerichtet. Der Freund verneigte sich, und der Gelehrte tat es ihm nach.

Leise fragte er dann seinen Freund: „Wie heißen denn die drei Flußgötter?“

„Der im Tempel“, war die Antwort, „ist der goldene Drachenkönig. Die beiden auf den Säulen sind zwei Feldherren. Sie wagen es nicht, mit dem König zusammen im Tempel zu sitzen.“

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 145. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_145.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)