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44. Wie Muliän seine Mutter aus der Hölle holte

Muliän war ein berühmter Buddhist aus der Tangzeit. In früher Jugend ging er ins Kloster und erwachte zur Erkenntnis des Sinns und ward zum Buddha. Seine Mutter aber war roh und neidisch in ihrem Wesen. Sie mißachtete die Gottesgaben, trat das Brot mit Füßen; Nahrungsreste lagen allenthalben bei ihr auf dem Boden umher. Und wenn ein Bettler kam und um Essen bat, so achtete sie seiner nicht. Darum bekam sie Schlingbeschwerden und mußte lange Tage Hunger leiden. Dann starb sie. Zwei Teufel schleppten sie fort. Auf dem Wege ins Jenseits gings über den Totenberg und den Fluß der Unterwelt, und die Teufel quälten sie auf jegliche Weise. Als sie in der Unterwelt ankam, war der Totengott sehr zornig und befahl, sie in die Hungerhölle zu sperren. Vor Hunger knurrten ihr die Eingeweide wie der Donner; aber kein Körnchen bekam sie zu essen. Jedesmal, wenn sie vor Hunger schrie, so stimmten alle hungrigen Geister ein. Darum hefteten die Schergen ihr die Zunge mit einer eisernen Ahle fest, daß sie keinen Laut mehr von sich geben konnte, und zündeten ihr zwei Lampen vor den Augen an, daß sie nichts mehr sah. Gerne wäre sie noch einmal gestorben; aber es ward ihr nicht zuteil. Zu jener Zeit hatte Muliän die Stufe des Buddha erreicht. Er wußte, daß seine Mutter tot war. So stieg er hinunter in die Unterwelt und trat vor den Totengott. Er wollte seiner Mutter eine Almosenschüssel voll Reis zum Essen bringen. Der Totenfürst gab die Erlaubnis, doch sagte er: „Ich fürchte, sie wird essen wollen, aber es wird ihr nicht gelingen. Der Strafe, die man sich selber zugezogen, entgeht man nicht.“

Muliän ging nun zu der Hungerhölle und verlangte seine

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_126.jpg&oldid=- (Version vom 30.5.2018)