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stand geschrieben: Geistertorpaß. Da erst wurde Hu Di gewahr, daß er gestorben sei. Mit Sehnsucht dachte er an seine Heimat zurück.

Plötzlich entdeckte er auf einem Berg eine Platte: Männer und Frauen stiegen in dichten Scharen hinauf und hinab, und alle weinten bitterlich.

Der Teufel sprach: „Das ist die Platte Heimatblick.“

Er führte ihn hinauf, und als er von der Platte einen Blick ins Land herniederwarf, da sah er seine Haustür greifbar nahe vor seinen Augen. Seine alte Mutter war auf einen Stab gestützt und weinte. Weib und Kind trugen Trauerkleider und einen Strick um den Leib und standen schluchzend vor der Tür. Wie er sie so stehen sah, da gings ihm wie ein Messer durchs Herz, und er wollte sich losmachen und hinunterspringen. Aber der Teufel hielt ihn fest an seiner Kette und zerrte ihn von der Platte wieder herunter. Dann holte er aus dem Ärmel einen Stachelhammer hervor und trieb ihn damit vor sich her.

Als sie an dem Berge vorüber waren, da kamen sie an einen großen Fluß. Seine Wogen waren trübe und rot. An der Furt standen zahllose böse Teufel, die Peitschen und Gabeln in den Händen hielten und damit die Seelen der Abgeschiedenen ins Wasser hinunterstießen. Alte und Junge, Weiber und Kinder zu Hunderttausenden schwammen darin umher, bald bis über den Scheitel untertauchend, bald den Kopf herausstreckend. Und es war ein Geschrei und Heulen zum Herzzerreißen. Über den Fluß ging eine Regenbogenbrücke in goldnem Flimmerglanz. Darauf gingen vier oder fünf Leute. Sie alle trugen um den Kopf einen runden Heiligenschein und schritten mit den Füßen auf farbigen Wolken.

Der Teufel sprach: „Das ist der Höllenfluß. Die Sünder und Übeltäter müssen durchs Wasser, die Guten aber gehen über die goldene Brücke. Da es noch nicht bestimmt ist, ob du zu den Verdammten gehörst oder nicht, so will ich dich hinübergeleiten.“

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_118.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)