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so kommt es mir vor, als wärst du nicht stumm. Willst du nicht ein einziges Wörtchen mit mir reden? Wie schön wäre es, wenn du meine sprechende Rose sein wolltest!“

Die Frau blieb stumm. Wie er ihr auch schmeichelte und sie zum Lachen zu bringen suchte, sie gab ihm keine Antwort.

Da veränderten sich seine Mienen: „Wenn du nicht mit mir redest“, sagte er, „so ist es mir ein Zeichen, daß du mich verachtest; dann fang’ ich auch nichts mit einem Sohne an.“ Damit ergriff er den Knaben und schlug ihm den Kopf an einen Stein, daß das Hirn herausspritzte.

Weil Du Dsï Tschun das Knäblein so sehr liebgehabt, vergaß er die Warnung des Alten und rief: „Oh, oh!“

Aber noch ehe der Laut verklungen war, erwachte er wie aus einem Traum und saß an seinem alten Platz. Der Alte war auch zugegen. Es war etwa um die fünfte Nachtwache. Aus dem Ofen aber schlugen purpurne Flammen wild heraus und flackerten zum Himmel empor. Das ganze Haus wurde erfaßt und brannte lichterloh.

„Du hast mich betrogen!“ rief der Alte. Dann nahm er ihn bei den Haaren und steckte ihn in den Wasserkrug. Und im Augenblick war auch das Feuer erloschen. Der Alte sprach: „Freude und Zorn, Trauer und Furcht, Haß und Lust hast du zwar überwunden; aber die Liebe hast du noch nicht ausgerottet. Wenn du nicht geschrien hättest, als das Kind getötet wurde, so wäre mein Elixier zustande gekommen, und auch du hättest die Unsterblichkeit erlangt. Im letzten Augenblick hast du versagt. Nun ists zu spät. Jetzt kann ich mein Elixierbrauen wieder von vorne anfangen, und du bleibst ein sterblicher Mensch.“

Du Dsï Tschun sah, wie der Ofen zersprungen war, und statt des Steins der Weisen stak ein Stück Eisen darin. Der Alte warf die Kleider ab und zerhackte es mit einem Zaubermesser. Du Dsï Tschun nahm Abschied und kehrte nach Yangdschou zurück, wo er in großem Reichtum lebte.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_115.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)