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Aber er erwiderte kein Wort.

Da ließ der Höllenfürst die Frau auf alle Weise peinigen. Die Frau flehte ihn an: „Zehn Jahre lebe ich schon mit dir zusammen. Willst du nicht ein einziges Wörtlein reden, um mich zu retten? Ich halt es nicht mehr aus!“ Dann stürzten ihr die Tränen stromweise aus den Augen. Sie schrie und schalt. Doch er redete kein Wort.

Da rief der Höllenfürst: „Haut sie in Stücke!“ Und wirklich wurde sie vor seinen Augen unter Winseln und Kreischen in Stücke zerhackt. Aber Du Dsï Tschun rührte sich nicht.

„Das Maß dieses Schurken ist voll!“ schrie der Höllenfürst. „Er darf nicht länger unter den Lebenden weilen. Schlagt ihm den Kopf herunter!“

Sie töteten ihn, und er fühlte, wie seine Seele entwich. Der Ochsenkopf schleppte ihn nun in die Hölle, wo er alle Qualen einzeln über sich ergehen lassen mußte. Aber Du Dsï Tschun blieb der Worte des Alten eingedenk. Die Qualen schienen auch nicht unerträglich. So schrie er nicht und redete kein Wort.

Nun wurde er wieder vor den Höllenfürsten geschleppt. Der sprach: „Dieser Mensch soll zur Strafe für seine Verstocktheit als Weib wiedergeboren werden.“

Die Teufel zerrten ihn zum Lebensrad, und er kam als Mädchen wieder zur Welt. Er war viel krank und mußte fortwährend Arzneien schlucken und sich stechen und brennen lassen. Auch fiel er oft ins Feuer oder ins Wasser. Doch gab er nie einen Laut von sich. Allmählich wuchs er heran zu einer wunderschönen Jungfrau. Weil er aber nie redete, so hieß man ihn das stumme Mädchen. Ein Gelehrter verliebte sich in die Schönheit und heiratete sie. Sie lebten in Liebe und Eintracht bei einander, und sie gebar ihm einen Sohn, der schon mit zwei Jahren über alle Maßen klug und verständig war.

Eines Tages hatte ihn der Vater auf dem Arm. Da sprach er scherzend zu der Gattin: „Wenn ich dich so ansehe,

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_114.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)