Seite:Wilhelm ChinVolksm 096.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Da geriet die Frau in solche Wut, daß sie in Tränen ausbrach.

„Wir Frauen sind doch treuer als ihr Männer. So ein herzloser Gesell wie du! Die erste starb dir weg, da nahmst du eine zweite. Die zweite schicktest du fort, da nahmst du mich. Und nun denkst du, daß wir Frauen auch so seien. Du bist ja noch gar nicht tot. Wie kannst du deine eigenen Schlechtigkeiten andern in die Schuhe schieben!“

Damit riß sie dem Dschuang Dsï den seidenen Fächer aus der Hand und zerbrach ihn in tausend Stücke.

„Mein Liebchen“, sagte Dschuang Dsï, „wenn du wirklich so gesinnt bist, so kann es mir ja nur recht sein. Warum mußt du denn gleich so böse werden?“

So hatte das Gespräch ein Ende.

Nach ein paar Tagen wurde Dschuang Dsï plötzlich krank, und es ward von Tag zu Tag schlimmer. Da wandte er sich unter Tränen an seine Frau.

„Es steht schlimm mit mir“, sagte er, „jeden Augenblick kann ich sterben. Wie schade, daß du den seidenen Fächer schon zerbrochen hast! Hättest du ihn noch, so könntest du mit ihm mein Grab fächeln.“

Da brach die Frau in lautes Weinen aus und schwur ihm ewige Treue.

„Daran erkenn ich deine Liebe“, sprach Dschuang Dsï. „Bin ich erst tot, hab ich die Augen zu.“

Als er das gesagt, da stand sein Atem still.

Die Frau ließ nun einen Sarg machen und legte Trauerkleidung an. Tag und Nacht schrie und schluchzte sie. So trieb sie es sieben Tage lang.

Da kam plötzlich ein junger Bakkalaureus. Er hatte ein Gesicht wie Milch und Blut. Er trug ein Purpurkleid und gestickte Schuhe, ein ungewöhnlich hübscher Jüngling. Er brachte einen alten Diener mit, sagte, er sei ein Prinz von Tschu und habe sich seit einem Jahre vorgenommen, daß er bei Dschuang Dsï Schüler werden wolle. Unglücklicherweise sei nun der Meister tot.

Empfohlene Zitierweise:
Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_096.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)