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Er hielt den Fächer in der Hand und blickte ihn an. Er fühlte sich innerlich unbehaglich und seufzte fortwährend.

Seine Frau war eine geborene Tiän. Sie stammte aus dem alten Fürstengeschlecht von Tsi. Sie war jung und schön. Es war seine dritte Frau. Die erste war gestorben, die zweite hatte er verstoßen, und als dritte hatte er sie genommen.

Sie fragte ihn: „Wo hast du denn den Fächer her, und warum seufzest du so unaufhörlich?“

Da erzählte ihr Dschuang Dsï die Geschichte von der jungen Frau am Grab.

Seine Frau ward sehr erbost und sprach: „Dieses treulose Weib wollte schon wieder heiraten, nachdem noch nicht einmal die Erde des Grabes trocken war! Das ist doch eine Schamlosigkeit.“

Dschuang Dsï sang ein Liedchen vor sich hin:

„Solang man lebt, spricht jede nur von Liebe,
Ist man erst tot, so fächelt sie das Grab.
Das äußere Fell nur zeigt das Bild des Tigers,
Bei Menschen kennt man das Gesicht, doch nicht das Herz.“

Dadurch ward seine Frau noch mehr erbost; sie spuckte ihm ins Gesicht und sprach: „Es gibt doch verschiedene Menschen auf der Welt. Wie kannst du um der einen willen das ganze weibliche Geschlecht verunglimpfen?“

„Versündige dich nicht mit leeren Worten!“ sagte Dschuang Dsï zu ihr. „Nimm einmal an, ich hätte das Unglück und würde sterben; daß du mir ewige Treue hieltest, davon will ich ganz schweigen, ich fürchte, du würdest es nicht einmal ein paar Jahre lang aushalten.“

„Ein treuer Knecht kann nicht zwei Herren dienen. Ein gutes Weib heiratet nicht zum zweitenmal. Wenn je mich dieses Unglück treffen sollte, ich würde niemals einem anderen angehören.“

„Und ich glaub dirs doch nicht!“ sagte Dschuang Dsï.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_095.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)