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Der Magier berückte ihn, da war es dem König, wie wenn er ins Leere hinabfiele.

Als er zu sich kam, saß er an demselben Platz wie zuvor. Die aufwartenden Diener waren dieselben wie zuvor. Er blickte vor sich, da war der Becher noch nicht leer und die Speisen noch nicht kalt.

Der König fragte, was sich begeben habe. Da antworteten die Diener: „Der König saß eine Weile schweigend da.“ Da geriet der König außer sich, und es dauerte drei Monate lang, ehe er wieder zurechtkam. Dann befragte er den Magier. Der Magier sprach: „Ich wandelte im Geist mit dir, o König, – was braucht sich da der Leib zu bewegen? Wo wir damals geweilt, das war nicht weniger wirklich als dein Schloß und deine Gärten. Du bist nur gewöhnt an dauernde Zustände; daher findest du solche plötzlich sich auflösenden Erscheinungen wunderbar.“

Der König wars zufrieden. Er kümmerte sich nicht mehr um die Reichsgeschäfte und hatte keine Lust mehr zu seinen Dienern und Weibern, sondern entschloß sich, in die Ferne zu reisen. Er ließ die acht berühmten Rosse anspannen und fuhr mit wenigen Getreuen tausend Meilen weit. Da kam er ins Land der großen Jäger. Die großen Jäger brachten dem König das Blut der Schneegans als Trank und wuschen seine Füße in der Milch von Pferden und Rindern. Als sie getrunken, fuhren sie weiter und übernachteten am Abhang des Kunlun-Berges im Süden des Roten Wassers. Am andern Tag bestiegen sie den Gipfel des Kunlun-Berges und schauten nach dem Schloß des Herrn der gelben Erde. Dann reisten sie weiter zur Königin-Mutter des Westens. Ehe sie dahin kamen, mußten sie über das Schwache Wasser. Das ist ein Fluß, dessen Wellen nicht Floß noch Schiffe tragen. Alles, was darüber fährt, versinkt in die Tiefe. Als der König an das Ufer kam, da schwammen Fische und Schildkröten, Krebse und Molche herbei und bildeten eine Brücke, so daß er mit dem Wagen hinüberfahren konnte.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_092.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)