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Aber der Lahme wollte nichts von ihm wissen und hieß ihn fortgehen. Doch der Arme hörte nicht auf, ihn anzuflehen, daß er mit ihm gehen und auch zu den Unsterblichen gehören dürfe. Das sei unmöglich, gab der Lahme zur Antwort. Doch da der Arme gar nicht aufhörte zu betteln und nicht von ihm wich, sprach er schließlich: „Nun gut, halte dich an meinem Rocke fest!“ Das tat der Mann, und nun ging es in fliegender Eile über die Wege und Felder fort, immer weiter, immer weiter. Auf einmal standen sie zusammen hoch oben auf dem Turm des Ponglai-schan, des berühmten Geisterberges am Ostmeer. Und siehe, da waren die andern Unsterblichen auch. Aber diese waren höchst unwillig über den Genossen, den Li Tiä-Guai mitgebracht hatte. Doch da der Arme so dringlich bat, ließen auch sie sich schließlich erweichen und sagten zu ihm: „Wohlan! Wir springen jetzt hinunter in das Meer; folge uns, dann kannst du auch ein Unsterblicher werden!“ Und einer nach dem andern von den Sieben sprang hinab in das Meer. Als aber die Reihe an den Mann kam, bekam er Angst und wollte den Sprung nicht wagen. Da sagte der Lahme zu ihm: „Wenn du dich fürchtest, kannst du auch kein Unsterblicher werden.“

„Was soll ich nun anfangen“, jammerte der Mann; „meine Heimat ist weit fort, und ich habe kein Geld!“ Der Lahme brach ein Stückchen Stein von der Mauerzinne los und drückte es dem Manne in die Hand; danach sprang er selbst vom Turm hinunter und war gleich den sieben andern im Meer verschwunden.

Wie nun der Mann den Stein in seiner Hand näher betrachtete, da war er von reinem Silber. Das reichte ihm als Reisegeld, bis er nach vielen Wochen wieder in seiner Heimat war. Da war dann aber auch das Silber gerade aufgebraucht, und er war ebenso arm wie vorher.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_075.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)