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ihn zu verehren.“ – „Was ist das für ein Gott?“ fragte Li Dsing. – Man wagte es ihm nicht zu verhehlen. Da wurde Li Dsing böse. Er sprengte auf seinem Pferd den Berg hinan, und richtig stand über dem Tor des Tempels geschrieben: „Notschas Heiligtum“. Und Notschas Bild stand darin, das glich ihm völlig, wie er zu Lebzeiten gewesen war. Li Dsing sprach: „Zu Lebzeiten hast du deine Eltern ins Unglück gebracht. Und nun nach deinem Tode betörest du das Volk. Das ist abscheulich!“ Mit diesen Worten zog er seine Peitsche hervor, schlug Notschas Götterbild in Stücke, ließ den Tempel verbrennen und den Opfernden gütlich zureden. Dann kehrte er heim.

Notscha war an jenem Tag im Geiste auswärts gewesen. Als er zu seinem Tempel zurückkam, fand er ihn zerstört. Vom Berggeist erfuhr er das Nähere. Notscha eilte zu seinem Meister und erzählte ihm unter Tränen, was geschehen war. Der sprach erregt: „Das ist Li Dsings Fehler. Nachdem du den Eltern deinen Leib zurückgegeben, gehst du ihn nichts mehr an. Was braucht er dir den Genuß des Weihrauchs zu entziehen?“ Dann schuf der Große Eine aus Lotuspflanzen einen Leib, verlieh ihm Leben und schloß Notschas Geistiges in diesen Leib ein. Dann rief er ihm mit lauter Stimme zu: „Steh auf!“ Ein Atemzug ließ sich vernehmen, und Notscha sprang in der Gestalt eines kleinen Knaben wieder auf. Er warf sich vor seinem Meister nieder und dankte ihm. Der verlieh ihm den Zauber der feurigen Lanze, und Notscha hatte von jetzt ab zwei wirbelnde Räder unter den Füßen: das Rad des Windes und das Rad des Feuers. Darauf konnte er in der Luft auf- und niedersteigen. Der Meister gab ihm auch einen Sack aus Pantherfell, in dem sein Reif und sein seidenes Tuch war.

Die Rachegedanken ließen Notscha keine Ruhe. In einem unbewachten Moment ging er weg und stürmte auf rollenden Rädern unter Donnergetöse nach der Wohnung Li Dsings. Der vermochte ihm nicht zu widerstehen und

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_042.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)