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Drache mit seiner Hellebarde auf ihn los. Aber Notscha sprach: „Sag an, wer bist du, ehe wir kämpfen?“ – „Ich bin der Sohn des Drachenkönigs“, war die Antwort. – „Und ich bin Notscha, der Sohn des Feldherrn Li Dsing. Du mußt mich durch deine Gewalttätigkeit nicht böse machen, sonst zieh ich dir mitsamt deinem Alten, dem Schlammfisch, die Haut ab!“ Da ward der Drache wild und kam grimmig herangestürmt. Notscha aber warf sein rotes Tuch in die Luft, daß es wie eine Feuerkugel blitzte und den Drachenjüngling von seinem Tier herunterwarf. Nun nahm Notscha seinen goldnen Reif und schlug ihn auf die Stirn, daß jener in seiner wahren Gestalt als goldner Drache sich zeigen mußte und tot zusammenbrach.

Notscha lachte: „Ich habe sagen hören, daß man aus Drachensehnen gute Stricke machen kann. Ich will ihm eine herausziehen und meinem Vater bringen, der kann sich seinen Panzer damit festbinden.“ Damit zog er ihm die Rückensehne heraus und nahm sie mit heim.

Unterdessen war der Drachenkönig wütend zu Notschas Vater Li Dsing geeilt und hatte seine Auslieferung verlangt. Li Dsing aber sprach: „Ihr müßt euch irren, mein Junge ist erst sieben Jahre alt, der ist zu solchen Untaten nicht imstande.“ Während sie noch stritten, kam Notscha herbeigesprungen und rief: „Vater, ich bringe dir eine Drachensehne mit, damit kannst du deinen Panzer festbinden.“ Nun brach der Drache in Tränen und grimmige Scheltworte aus. Er drohte, den Li Dsing beim Himmelsherrn anzuzeigen, und ging wutschnaubend weg.

Li Dsing geriet in große Aufregung, erzählte den Vorfall seiner Frau, und beide fingen an zu weinen. Notscha aber kam dazu und sagte: „Was weint Ihr denn? Ich gehe einfach zu meinem Meister, dem Großen Einen, der wird schon Rat wissen.“ Als er das gesagt, war er auch schon verschwunden. Er trat vor seinen Meister und erzählte ihm die ganze Geschichte. Der sprach: „Du mußt dem Drachen zuvorkommen, daß er dich nicht im Himmel verklagt.“

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_039.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)