Seite:Wilhelm ChinVolksm 008.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Der Priester sprach: „Wahrlich, du hast die rechte Kindesliebe!“

Dann ließ er sich das Fleischstück der Mutter geben, knetete daraus ein kleines Männchen, blies es an, und mit einem Sprunge stand es da. Es war ein ganz stattlicher kleiner Knabe geworden.

„Der heißt der kleine Vorteil“, wandte er sich an den Sohn, „du magst ihn deinen Bruder nennen. Du bist arm und hast nichts, deine Mutter zu ernähren; wenn du etwas brauchst, kann es Klein-Vorteil dir verschaffen.“

Der Sohn bedankte sich nochmals. Dann nahm er seine Mutter wieder auf den Rücken und seinen neuen kleinen Bruder an die Hand und ging nach Hause. Wenn er zu Klein-Vorteil sagte: Bringe Fleisch und Wein! war Fleisch und Wein sofort auch da, und dampfender Reis kochte auch schon im Topf. Wenn er zu Klein-Vorteil sagte: Bringe Geld und Tuch! so füllte das Geld die Beutel, und das Tuch lag in den Kisten bis zum Rand. Was immer er bat, alles wurde ihm zuteil. So wurden sie allmählich recht wohlhabend.

Sein älterer Bruder beneidete ihn aber sehr, und als im Dorfe abermals ein Schauspiel war, nahm er die Mutter mit Gewalt auf den Rücken und ging hin. Da er zur Schlucht kam, glitt er mit Willen aus und ließ die Mutter in die Tiefe fallen, nur darauf bedacht, daß sie auch wirklich ganz in Stücke ginge. Und richtig, die Mutter fiel so übel, daß Rumpf und Glieder rings umher zerstreut waren. Gemächlich stieg er selbst nunmehr hinab, nahm der Mutter Kopf in seine Hände und stellte sich, als ob er weine.

Schon war auch wieder der Priester zur Stelle und sprach: „Ich kann die Toten wieder auf erwecken, weiße Gebeine mit Fleisch und Blut umgeben.“

Dann machte er es wie das letztemal, und die Mutter kam wieder zu sich. Der ältere Bruder aber hatte absichtlich schon vorher eine ihrer Rippen versteckt.

Empfohlene Zitierweise:
Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_008.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)