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genialer Flamme des Humors leuchtet das physiognomische „Fragment von Schwänzen“, und die beiden Träume am Anfang und am Schluß der Abteilung werden wohl jeden gewinnen, der noch erst für Lichtenberg zu gewinnen ist. Hat sich diese Erweiterung seines Ichs vollzogen, hat er sich mit wachsender geistiger Wollust in den tiefsinnigsten und philosophischsten Humoristen unsres Volks vertieft, so wird ihm auch willkommen sein, in der dritten Abteilung: „Aus Lichtenbergs Briefen“, die ich chronologisch angeordnet habe, das Bild eines so merkwürdigen und so liebenswürdigen Menschen sich mehr und mehr runden zu sehen, bis es, plastisch und voll geworden, in den unbekannten Abgrund alles Seins zurücksinkt.

In Lichtenberg ist süddeutsches und norddeutsches Wesen so eigentümlich innig gemischt, wie in wenigen von uns. Südlich vom Main, in dem Dorf Oberramstadt bei Darmstadt am 1. Juli 1742 als protestantischer Pfarrerssohn geboren, in Darmstadt geschult und herangewachsen, kam er als Student nach Göttingen, ward dort Dozent und Professor der Naturwissenschaften und verlebte in dieser neuen Heimat den Mittag, und den Abend, bis er ebendaselbst (am 24. Februar 1799) starb. Er war durchaus Hannoveraner und halber Norddeutscher geworden; seine Schreibweise bezeugt es an hundert Stellen. Sein innerstes Wesen hätte ihn wohl in größere Verhältnisse gezogen; nach einem langen Aufenthalt in England, dessen Kraft, Kultur, Freiheit und Größe tief auf ihn wirkte, blieb ihm zeitlebens ein Heimweh nach der wunderbaren Insel; aber wie alle die Führer unsrer Litteratur suchte und fand er für das kleine, enge Leben Ersatz in der Vielfarbigkeit seiner Weltbetrachtung und dem Reichtum seiner umherspähenden Gedanken. Den Menschen zu beobachten und mehr und mehr zu erkennen war er unermüdlich; sich für den reinsten, gesundesten Menschenverstand zu erziehen, schien ihm angeboren; doch warf er wohl um so eifriger, bewußter alle Kraft auf diesen Gleichgewichtspunkt, da er in sich einen tiefen, von der Mutter ererbten Hang zu zerfließender Schwärmerei und einen wunderlich starken Trieb zu allerlei Aberglauben fühlte. Hier erkennt man denn schon die fruchtbare Mischung, die ihn zum