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in der wissenschaftlichen Production führte ihn der unmittelbare Drang seiner künstlerischen Natur am sichersten zum Ziele.

Nicht anders auf sittlichem Gebiete. Er hat sich nicht wie wir andern durch Selbstbeherrschung und Selbstbescheidung zu dem Manne, der er war, erzogen, sondern ist unbefangen und unbeirrt durch Furcht oder Zweifel dem eigensten Gefühle gefolgt. Und er war so glücklich das zu dürfen. Daher die heitere Sicherheit seines Wesens, die ihm alle Herzen gewann: selbst wenn er im Zorne bis zur Ungerechtigkeit aufflammen mochte, hat ihm niemand einen Groll bewahren können. Gemeine Naturen zahlen mit dem was sie tun: edle mit dem was sie sind.

Aber wenn nun die Nacht kam, langsam, mit immer schwärzeren Schatten, wie sollte dieses Herz sie ertragen, das des Lichtes und der Wärme über alles bedurfte? Es stand ihm zur Seite was die Schatten scheuchte: die holde Treiberin Trösterin Hoffnung. Ihrer hatte er auf seinem ganzen Lebenswege niemals entraten können, aber sie hatte ihn auch nie verlassen. Und so vergoldete sie sein Leben treu bis zum letzten Tage. Es sind nicht viele Tage dass er mir nach langer Pause wieder mit eigener Hand eine Karte schrieb, die damit schloss „es geht doch vorwärts“. Das mochte menschlich betrachtet wie eine schwere Selbsttäuschung des unheilbar Kranken aussehen, und gewiss muss die Hoffnung auf ein leibliches Genesen den Seinen unsagbar traurig gewesen sein; aber mir ist die Wahrheit des Wortes gleich beim Lesen aufgegangen. Das war keine Täuschung, das war das Vorgefühl der nahenden Befreiung, das die hoffende Seele durch die entsetzlichen Qualen des siechenden Leibes hindurch beseligend empfand. So hat er sich doch die beglückende Kraft zu bewahren vermocht: er war geworden was er war, er ists geblieben: so wollen wir sein Bild in treuem Gedächtnis bewahren.

Ihr, liebe Kinder, habt euren Vater zum Teil noch nicht gekannt, und ganz versteht ein Kind wol niemals seine Eltern. Wenn es euch einmal gelingt durch die Macht der Töne ein erhabenes Kunstwerk so zu verkörpern, dass alles Menschliche, alle Mühsal und Eitelkeit schwindet, und dass eure Seele kein anderes Gefühl mehr hat, als die Andacht vor der heiligen Schönheit: dann ist der Geist eures Vaters über euch. Aber auch wenn euch das Leben an den Scheideweg stellt und ihr wählen müsst, ob ihr den breiten Weg gehen wollt oder den rauhen und schmalen, den Pflicht und Ehre weisen, dann denkt eures Vaters: er hat niemals geschwankt, ja niemals gewählt,