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Flügel im Sonnenlichte wiegte. Das war wenige Jahre später auf dem Boden Italiens. Der reine Himmel, die milden Lüfte, die melodische Sprache, die zu hören und zu reden ihm zeitlebens ein Genuss blieb, die natürliche Anmut der ungezwungenen Lebensformen, das alles fühlte er seinem eigentlichen Wesen verwandt: da ward er fast plötzlich er selbst, nicht durch eine Umwandlung, sondern durch die freie Entfaltung seiner Natur. Und so ist er geblieben, so hat er sich in glücklicher ungestörter Selbstentfaltung ausgelebt. Wol sind noch zwei Momente hinzugetreten, die ihn wesentlich höher gehoben haben: einmal dass er die Gattin fand: ich weiss genug um zu schätzen, wieviel er dadurch an sich selbst gewonnen hat; aber da bindet mir wieder die Ehrfurcht vor dem heiligen Schmerze die Lippen. Das andere war die unerwartete Berufung zu dem Lehramt an der Universität, das ihm mit der Freiheit, sich ganz seiner Wissenschaft zu widmen, die Verpflichtung auferlegte, in dieser immer weiter und tiefer zu gehn. Aber innerlich verändert hat ihn auch das nicht. Ganz unwesentlich sind vollends die Wechsel des Wohnortes und Wirkungskreises gewesen, die der Beruf brachte; nur dass es ihm wie eine Heimkehr war, als er von der Ostsee in das sonnige Rheintal ziehen durfte. Denn in Lübeck geboren und aufgewachsen hat er sich doch niemals dort zu Hause fühlen können, und wirklich stammte sein Geschlecht aus der Pfalz.

     Künstlerblut war in ihm, und es hat sich nicht verleugnet. Denn im Grunde war seine Neigung und Begabung künstlerisch. Er bedurfte der Schönheit, der hohen und ernsten, wie er des Sonnenlichtes bedurfte. Diese unentbehrliche Nahrung der Seele fand er vor allem in der Musik, die er auf Grund der ernstesten und tiefgehendsten Arbeit ununterbrochen übte, aber im stillen, nur für sich. Nie hat sie sich vor seine wissenschaftliche Tätigkeit gedrängt; aber sie ist zu dieser das notwendige Complement gewesen, und die Wahrheit in Kürze zu sagen, hat er seine Philologie nicht anders getrieben als seine Musik. Gewiss hat er sich all der entsagungsvollen Pflichtarbeit nicht entzogen, die der Lehrberuf und auch die Wissenschaft fordern; er hat an manchem schweren Werke Hand angelegt und Jahre lang ausgeharrt, nicht weil es ihn anzog, sondern weil es für die Wissenschaft notwendig war. Aber ganz wohl fühlte er sich erst und erreichte demgemäss erst das Höchste, wenn er durch die souveräne Beherrschung der Sprache und der Kunstformen, die er sich erworben hatte, das volle Verständnis und die volle Wirkung des Schönen nachschaffend erschloss. Auch