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„Nieder mit den Juden!“ schrie das Volk. Ein ungeheurer Tumult entstand, der den frommen Gesang der Geißler übertönte. –

Dem ganzen Vorgange hatte ein jüdisches Mädchen, Mirjam, die Enkelin des verhaßten reichen Juden Daniel, mit beigewohnt. Sie war ein sanftes, gutherziges Wesen und kränkte sich tief über ihres Großvaters Geiz und Habgier. Da sie verwaist war, hatte er sie in sein Haus genommen, er kümmerte sich aber wenig um sie und überließ sie ganz der Obhut ihrer Wärterin Margarete. Diese war eine Christin, und sie streute in Mirjams Seele manches edle Samenkorn, das in dem empfänglichen Gemüte des stillen Mädchens kräftig keimte und wuchs.

Als der Lärm auf dem Hauptmarkte ausbrach, schlich Mirjam ängstlich fort und eilte nach der Juden Gasse, die man jetzt Heinrichs Gasse nennt, nach dem Hause ihres Großvaters.

Daniel saß eben am Tische und zählte Geld. Mirjam wußte, es war das letzte von Veit Winkler, das er am Morgen gebracht hatte. Der alte Jude war schon gebückt von der Last der Jahre, sein Haar und Bart glänzten silberweiß, und seine Hände zitterten; aber die dunklen Augen mit dem bösen Blick hatten nichts von dem Feuer der Jugend verloren.

„Großvater,“ rief Mirjam atemlos, „die Verfolgung ist ausgebrochen!“

Ueber des Greises Gesicht flog ein böses Lächeln, und ruhig sagte er: „Ich bin bereit. Du gehst sogleich zu Abraham, meinem Freund, er nimmt Dich mit seiner Familie mit nach Breslau.“

„Und Du?“ fragte Mirjam traurig.

„Ich? Nun, ich will Dir’s sagen, bist ja groß genug! Höre! Am Abhange des Brotschenbergs, unterhalb der Schanze, der Ortenburg gegenüber, liegt eine Höhle im Felsen. Zwei Männer können sich gut darin bewegen. Dorthin habe ich neulich all mein Geld gebracht. Dorthin gehe ich und hüte die Reichtümer.“

„Großvater,“ bat Mirjam, „flieh’ mit uns, oder laß mich bei Dir bleiben!“ –

„Du gehst, und ich bleibe bei meinem Gelde!“ befahl er barsch.

„Laß es liegen,“ rief Mirjam mit leuchtenden Augen, „wenn Dir’s genommen wird, umso besser für Dich, es ist unrecht Gut; Armut und Not, Tränen und Seufzer hängen daran.“

Der alte Jude sah sie sprachlos an, aber sie hielt ruhig den zornigen Blick aus. Da ging er dröhnenden Schrittes hinaus und kehrte bald mit einem Kästchen zurück.

„Da nimm das, Du närrisches Ding,“ sagte er höhnisch. „Es ist von Deiner Mutter, die war gerade so einfältig wie Du. Es ist alles redlich erworben, ersponnen, erwebt und was weiß ich. Darum ist es auch herzlich wenig.“ –

Die Judenverfolgung hatte sich verzogen. Da die Juden alle entflohen waren, begnügte sich die wütende Menge, ihre Häuser zu beschädigen und mit großem Geschrei durch die Stadt zu ziehen. Mirjam hatte sich nicht den Flüchtlingen angeschlossen. In einem versteckten Bodenkämmerchen hatte sie mit Margarete den Schreckenstag verlebt und wollte am Abend des nächsten Tages nach Göda, zu Freunden ihrer Pflegerin wandern. Im Schutze der Dämmerung, von dunklen Tüchern verhüllt, schritten die beiden Frauen über die Spreebrücke. Da kam ihnen von der anderen Seite ein Haufe bewaffneter Männer entgegen. Sie wollten still vorübergehen, aber Veit Winkler erkannte sie doch und stellte sich vor Mirjam.

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Friedrich Bernhard Störzner: Was die Heimat erzählt. Arwed Strauch, Leipzig 1904, Seite 513. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Was_die_Heimat_erz%C3%A4hlt_(St%C3%B6rzner)_513.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)