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Ostermorgen vor Sonnenaufgang hinauf nach dem Sibyllensteine an die Quelle der Elster und wuschen sich in diesem Wasser. Man dämmte wohl auch das herabfließende Wasser ein und badete in demselben. Auch schöpfte man es und besprengte mit diesem dann daheim Menschen und Vieh. Schon Tage vor dem Ostermorgen wurde das Wasser der Elster in der Nähe der Quelle eingedämmt, so daß dann der Fahrweg, welcher hinab nach Kindisch führt, nicht passiert werden konnte. Es galt das Wasser der Elster, ebenso auch das der nahen Röder, den Umwohnern einst für heilig und von den Göttern geweiht. Ihm schrieb man eine ganz besondere Heilkraft und Wirkung zu. Wer am Ostermorgen mit diesem vor Sonnenaufgang geschöpften Wasser sich wusch, blieb das ganze Jahr hindurch vor Krankheit bewahrt. Gleichzeitig verhalf dieses Wasser auch zur Schönheit. Wenn dieses abgedämmte Wasser seine wunderbare Heilkraft ausüben sollte, dann durfte dasselbe freilich vor Sonnenuntergang nicht wieder freigelassen werden. Noch heute kommt es vor, daß einzelne Bewohner der Umgegend am Ostermorgen vor Sonnenaufgang nach dem Hochsteine gehen und aus der Quelle der Elster oder Röder heiliges Wasser schöpfen und trinken. –

Seit den frühesten Zeiten gilt der Flußsand der Schwarzen Elster und der Röder aber auch für goldhaltig. Und in Wirklichkeit enthält derselbe goldschimmernde Plättchen vom Glimmer des aufgelösten Granits, welche von den früheren Leuten freilich für echte Goldkörner gehalten wurden. –

Ganz besonders weilt die Sage aber an jenem Felsenaltar auf der Höhe des Sibyllensteines. Sie erzählt, daß der burgartige Felsen einst viel höher gewesen sei. Da aber die Sündhaftigkeit der Menschen immer mehr zunahm, so wäre eines Tages der Fels ein großes Stück in den Berg gesunken.

Die Sage berichtet noch folgendes:

Unter dem Felsenaltare auf dem Gipfel des Sibyllensteines liegen große Schätze vergraben. Zu ihnen führt in der Nähe der Sibyllenhöhle eine geheimnisvolle Türe, die zu manchen Zeiten sogar geöffnet ist. Wer in jener Stunde auf dem Berge weilt, kann diese Türe sehen und in das Innere der Felsenhöhle eintreten. Dieses Glück hatte einst ein Mann. Er erblickte deutlich eine Tür, die zu einer Höhle führte. Der Mann trat durch diese offene Tür in die Höhle ein. Da sah er in dem hellerleuchteten Gewölbe eine alte Frau, welche sich die Haare kämmte. Darüber erschrak der Mann gar sehr und eilte wieder hinaus. Gleich darauf schlug die Türe krachend zu und war nicht mehr zu sehen. „Es ist das eine Sage, die sich von mehreren Bergen findet und vielleicht auf das feenhafte Wesen, die alte Frau Holle oder Hulda (die Perchta anderer Gegenden), Bezug hat und zugleich auf jenen Sibyllen-Namen, wie denn auch das Haarkämmen bei den alten Halbgöttern und Geistern nicht selten vorkommt.“[1]

Vor wenigen Jahren widerfuhr droben am Sibyllensteine einem Waldarbeiter etwas Seltsames. Derselbe war damit beschäftigt, einen Baumstumpf auszuroden. Auf einmal tat es dicht neben ihm einen donnerähnlichen Knall, so daß die Erde förmlich bebte. Erschrocken blickte der Mann um sich, entdeckte aber nichts, wovon der gewaltige Krach herrühren konnte. Deshalb setzte nach einigem Kopfschütteln der Mann seine


  1. Preusker: „Blicke in die vaterl. Vorzeit“, 1841, II. Band, Seite 217.
Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Bernhard Störzner: Was die Heimat erzählt. Arwed Strauch, Leipzig 1904, Seite 241. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Was_die_Heimat_erz%C3%A4hlt_(St%C3%B6rzner)_241.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)