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Das Klima der hiesigen Gegend war in jenen Zeiten vorherrschend feucht und kalt. Obst und Wein reiften nicht. Schon im Monat September stellten sich Schnee und Frost ein, und die Winterkälte währte in der Regel bis in den Mai des folgenden Jahres. In den von Bäumen und Gestrüpp am dichtesten verwachsenen Gründen des Urwaldes, wohin im ganzen Jahre kein Sonnenstrahl dringen konnte, war selbst im Spätfrühlinge der Schnee noch nicht völlig geschmolzen. Dichte Nebel trübten im größten Teile des Jahres das Sonnenlicht; ja, selbst während der Sommerszeit ballten sich hin und wieder Nebelmassen zusammen, welche die Gegend in ein unheimliches Dunkel hüllten. Furchtbare Gewitter entluden sich dann. Obgleich die hiesige Gegend damals von Menschen so gut wie gar nicht bewohnt war, so herrschte doch in dieser schrecklichen Einöde ein reges Leben. Wolf, Fuchs und Luchs schlichen durch die Wälder, um Beute zu suchen. Bär und Auerochs schritten durch die Wildnis, wilde Eber durchwühlten das Erdreich, wilde Katzen schlichen durch das Dickicht. An den Morästen und Sümpfen, Seen und Bächen fanden allerlei Sumpf- und Wasservögel einen erwünschten Aufenthalt, dazu Nahrung an dem großen Reichtume von Amphibien und Fischen. Alles lebte in ungetrübter Freiheit und hatte den Pfeil des Jägers nicht zu fürchten, da der Mensch noch nicht in diese Wildnis vorgedrungen war. Doch der Mensch blieb nicht aus. Er kam, wenn zunächst auch nur vereinzelt, gleichsam, als wollte er Umschau halten in dieser Gegend. Spät erst wagte er sich in den Hercynischen Wald. Wer mag wohl der erste mutige oder verirrte Wanderer gewesen sein, der den heimatlichen Boden betrat? – Wir wissen es nicht. Weder Geschichte noch Sage geben hierüber Aufschluß. Man nimmt aber allgemein an, daß ein deutscher Volksstamm, die Hermunduren, die ersten Bewohner unserer Heimat gewesen wären. Dieselben mußten nun darauf bedacht sein, den bisher undurchdringlichen Urwald so gut als möglich wegsam zu machen. Es galt deshalb, einen Weg anzulegen, auf dem man den Hercynischen Wald nach Westen zu durchdringen konnte. Mit den größten Anstrengungen wurde denn auch ein solcher durch die Wildnis gehauen, und schon im ersten Jahrhunderte nach Christi Geburt führte eine nach damaligen Begriffen gangbare Straße von Polen aus über die heutigen Städte Görlitz, Bautzen, Kamenz, Pulsnitz, Großenhain bis zur Elbe. Bei Riesa befand sich eine sogenannte Furt. Von hier aus nahm dieser uralte Weg seine Richtung westwärts über Wurzen, Leipzig bis nach Thüringen und Franken. Diese Straße diente den über Schlesien herkommenden Horden und Heereszügen als einziger gangbarer Weg durch die hiesige Gegend und durch unser nördliches Vaterland. Sie war die einzige Heerstraße durch den Hercynischen Urwald in unserer Heimat, und man bezeichnet sie als „die alte Heidenstraße“.

Diese Straße war für die ersten Bewohner unseres nördlichen Vaterlandes geradezu unentbehrlich. Die alten Deutschen hatten nicht lange Ruhe an ein und demselben Punkte. Sie zogen nach kurzem Aufenthalte bald weiter. Ihr Sinn war auf Krieg und Beute gerichtet. Sie befanden sich darum mit Weibern und Kindern fast immer auf sogenannten Heerfahrten. Aus diesem Grunde mußten sie eine große Heerstraße haben. Vermutlich ließen sie durch ihre Sklaven eine solche durch die Wildnis bahnen.

Die alte Heidenstraße war freilich keine Straße, wie deren heute unser Vaterland durchkreuzen. Sie war ein 14–20 m breiter Pfad, der dadurch gewonnen worden war, daß man Bäume fällte, Gestrüpp entfernte und die unebenen Stellen oberflächlich etwas einebnete. Durch die großen und häufigen Heer- und Wanderzüge der Völker wurde dieser Weg allmählich auch festgetreten.

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Friedrich Bernhard Störzner: Was die Heimat erzählt. Arwed Strauch, Leipzig 1904, Seite 206. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Was_die_Heimat_erz%C3%A4hlt_(St%C3%B6rzner)_206.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)