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breiten, schmutzigen Steinwall ohne Speichergebäude sich am Wasser der Düna entlang. Kleine Dampfer, die oft kaum mit dem Schornstein über die Kaimauer reichen, haben die schwärzliche Zwergenstadt angelaufen. (Die größeren Schiffe liegen dünaabwärts.) Schmutzige Bretter sind der tonige Grund, auf dem, in der kalten Luft leuchtend, einige wenige Farben zergehen. An manchen Ecken stehen hier das ganze Jahr neben Fisch-, Fleisch-, Stiefel- und Kleiderbaracken Kleinbürgerweiber mit den bunten Papierruten, die nach Westen nur um die Weihnachtszeit vordringen. Von der geliebtesten Stimme gescholten werden – so sind diese Ruten. Für wenige Santimes vielfarbige Strafbüschel. Am Ende der Mole liegt in hölzernen Schranken nur dreißig Schritt vom Wasser entfernt mit seinen rotweißen Bergen der Äpfelmarkt. Die feilgebotenen Äpfel stecken im Stroh und die verkauften ohne Stroh in den Körben der Hausfrauen. Eine dunkelrote Kirche erhebt sich dahinter, die in der frischen Novemberluft gegen die Backen der Äpfel nicht aufkommt. – Mehrere Läden für Schifferbedarf in kleinen Häuschen unweit der Mole. Taue sind aufgemalt. Überall sieht man die Ware abgemalt auf Schildern oder auf die Hauswand gepinselt. Ein Geschäft in der Stadt hat auf der unverputzten Ziegelwand Koffer und Riemen überlebensgroß. Ein niedriges Eckhaus mit einem Laden für Korsetts und Damenhüte ist mit geputzten Damengesichtern und strengen Miedern auf ockergelbem Grunde bemalt. Im Winkel davor steht eine Laterne, die auf den Glasscheiben Ähnliches darstellt. Das Ganze ist wie die Fassade eines Phantasiebordells. Ein anderes Haus, ebenfalls unweit des Hafens, hat Zuckersäcke und Kohlen grau und schwarz plastisch auf grauer Hauswand. Schuhe irgendwo anders regnen aus Füllhörnern nieder. Eisenwaren sind bis ins einzelne, Hämmer,

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Walter Benjamin: Einbahnstrasse. Rowohlt, Berlin 1928, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Walter_Benjamin_Einbahnstrasse.pdf/57&oldid=- (Version vom 9.6.2018)