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dem Verkehr konnte übergeben werden. An der Fassade sind die Wartesäle im Innern kenntlich, wo Reisende I.–IV. Klasse (doch vor Gott sind sie alle gleich), eingeklemmt wie zwischen Koffer in ihre geistige Habe, sitzen und in Gesangbüchern lesen, die mit ihren Konkordanzen und Korrespondenzen den internationalen Kursbüchern sehr ähnlich sehen. Auszüge aus der Eisenbahnverkehrsordnung hängen als Hirtenbriefe an den Wänden, Tarife für den Ablaß auf die Sonderfahrten im Luxuszug des Satan werden eingesehen und Kabinette, wo der Weitgereiste diskret sich reinwaschen kann, als Beichtstühle in Bereitschaft gehalten. Das ist der Religionsbahnhof zu Marseille. Schlafwagenzüge in die Ewigkeit werden zur Messezeit hier abgefertigt.

FREIBURGER MÜNSTER. Mit dem eigensten Heimatgefühl einer Stadt verbindet sich für ihren Bewohner – ja vielleicht noch für den verweilenden Reisenden in der Erinnerung – der Ton und der Abstand, mit dem der Schlag ihre Turmuhren anhebt.

MOSKAU BASILIUS-KATHEDRALE. Was die byzantinische Madonna im Arm hat ist nur eine hölzerne Puppe in Lebensgröße. Ihr Schmerzensausdruck vor einem Christus, dessen Kindsein nur angedeutet, nur vertreten bleibt, ist intensiver, als sie je mit einem lebenswahren Knabenbilde ihn zur Schau tragen könnte.

BOSCOTRECASE. Vornehmheit der Pinienwälder: ihr Dach ist ohne Verflechtungen gebildet.

NEAPEL MUSEO NATIONALE. Archaische Statuen tragen im Lächeln das Bewußtsein ihres Leibes dem Betrachter entgegen wie ein Kind die frisch gepflückten

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Walter Benjamin: Einbahnstrasse. Rowohlt, Berlin 1928, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Walter_Benjamin_Einbahnstrasse.pdf/52&oldid=- (Version vom 9.6.2018)