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Auch vor uns steht das Ereignis dieser Reformation, dieser Gegensatz des Gewesenen und des nun Beginnenden, als etwas Gewaltiges. Aber nicht allein das rechtlich Interessante sehen wir in dem Vorgange; wir denken auch an die seelischen Erlebnisse Unzähliger. Eine ungeheure Macht findet im Bereiche dieser Stadt, den sie seit Menschengedenken mit Leben erfüllt hat, von einem Tage zum andern ihr Ende; was als hohe Gewißheit über dem Einzelnen, über der Familie, den Vorfahren, der Stadt, der Welt gestanden, wird als Trug erklärt; eine neue Religiosität soll gelten, ein geänderter Gottesdienst. Und dem Schmerz über das Verlorengehen kostbarer Werte gegenüber walten das Gefühl neugewonnenen Reichtums und die Freude an einer endlich Siegerin gewordenen Wahrheit.

Wir suchen uns dabei die Stärke Derjenigen zu vergegenwärtigen, die reines Gewissens und mit einer in Kämpfen errungenen Überzeugung ihre Mitbürger und das Gemeinwesen diesen neuen Weg gehen heißen. Aber unmöglich ist uns, in die Seelen der diesen Führern Folgenden hineinzuschauen. Was bedeutet ihnen der Übergang vom Alten zum Neuen? Vielen bringt er Erfüllung der Sehnsucht, Vielen Trost und Glück, Andere fühlen vor Allem das Befreitsein von Zwang und Last. Mancher mag einfach mitgerissen worden sein, Manchem auch die Skepsis des Chronisten gelten: „da hat die Abgötterei ein Ende genommen in den Kirchen, nicht weiß ich wie in den Herzen.“ Und welche Empfindungen bewegen die vielen Hunderte, die sich besiegt beraubt und zum Leben in einer neuen Kirche gezwungen sehen?

Zum Wesen der Reformation gehört, daß sie das unmittelbare Verhältnis des Einzelnen zu Gott — als des einen Einzelnen, nicht als des Mitgliedes der kirchlichen Gemeinschaft — anerkennt. Aber diese Gemeinschaft ist vorhanden und will leben; sie ist die neue Kirche nach der alten; um ihrer Existenz und Organisation willen müssen auch die Reformatoren den alten Satz bekennen: außerhalb der Kirche ist kein Heil. Sekten und Häresien gegenüber, in denen das urtümliche und durch die reformatorische Bewegung neu bezeugte Freiheitsbedürfnis des Einzelnen sich äußert, vertreten die Reformatoren den Begriff auch ihrer Kirche als einer Heilsanstalt.

Diese Anstalt steht nun in engster Beziehung zur Obrigkeit, die wie die weltliche so die geistliche Gesetzestafel zu hüten hat. Die Kirche ist auf deren Schutz und Hilfe angewiesen, ja sie wird selbst Regierungssache. Die große, keine politischen Grenzen kennende Allgemeinheit der alten Kirche ist ersetzt durch ein nur für den Bereich dieses Stadtstaates vorhandenes Kirchenwesen; an die Stelle der von universalem Glanz umflossenen Gewalten Papst Bischof Priester tritt ein munizipales Regiment, in dem Theologen

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Rudolf Wackernagel: Geschichte der Stadt Basel. Dritter Band. Helbing & Lichtenhahn, Basel 1924, Seite 519. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wackernagel_Geschichte_der_Stadt_Basel_Band_3.pdf/540&oldid=- (Version vom 1.8.2018)