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bezeugt wird. Aber Akten und Bußen geben nur ein unvollkommenes Bild. Ergänzend, auch berichtigend tritt ihnen an die Seite und stellt Alles in freieres Licht, was Dichtkunst und Bildkunst uns Mitteilen. Unvergleichliche Urdokumente geben uns Künstler durch ihre Bilder aus dem ungestümen Leben. Gedankenreicher ist, wie sich die Literatur der Sache annimmt. Was Gengenbach seine „Zehn Alter“ dem Einsiedler beichten läßt, ist nichts Andres als dies ungestüme Leben. Dieselbe tiefe Teilnahme lebt in Gengenbachs „Gäuchmatte“; lebendig schildert diese Dichtung, wie dem Rufe der Venus folgend die verbuhlten Toren, die Gäuche, auf die Gäuchmatte bei Basel laufen und da durch die Dienerinnen der Göttin in Armut und Krankheit gebracht werden. Thomas Murner läßt sein gegen dieselben Weibernarren gerichtetes, gleichfalls Gäuchmatte betiteltes Gedicht 1519 hier im Druck ausgehen.

Wir aber sind verpflichtet, den wirklichen Wert Manches dieser wie im Taumel dahintreibenden Menschen in Gedanken an seine Haltung überhaupt zu bestimmen. Bonaventura Bär fällt als ein Tapferer bei Bicocca, Damian Irmi in der Schlacht am Gubel; auch ihre Freudengenossen Wentz Baumgarter Graf Caramellis u. A. sehen wir im Waffendienste dieselbe Kraft erweisen wie im übermütigen Zeitvertreib und Genuß zu Hause. Den richtigen Maßstab geben überhaupt nur das Tempo des damaligen Lebens, die Art und Stimmung der Zeit selbst.

So vorherrschend in dieser ganzen Erscheinung für den ersten Blick die Unsitte ist, in das ungehemmte Waltenlassen jedes Triebes, in das überlegungslose Dahinstürmen mengt sich auch das geistvoll Phantastische, die festlich gehobene Wirklichkeitsfreude und zumal Alles was Jugend und Frische und resolutes Leben ist.


Aber diese verführerisch bewegten Gestalten bilden nur eine Gruppe im Ganzen. Zudem eine nebensächliche. Ihr Leben ist keineswegs das Leben Aller, sondern nur eine besondere Form von Explosion der vorhandenen Kraft. Ganz anders geartete Äußerungen dieser Kraft haben wir in Menge vernommen; sie füllen weiteren Raum und haben stärkere Rechte, jede in einem andern Träger städtischen Wesens.

„Die Geister wachen auf“. Alles regt sich, wie vom Sturm ergriffen, getrieben weniger durch eigenen Willen als durch die gewaltige Zeit. Die Zeit, die aus neuen Meeresräumen neue Erden aufsteigen läßt und allenthalben hin Umgestaltung und Werdelust bringt. Ein renasci ist durchweg, nicht als Wiedergeburt des Altertums, sondern als Wiederverjüngung der

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Rudolf Wackernagel: Geschichte der Stadt Basel. Dritter Band. Helbing & Lichtenhahn, Basel 1924, Seite 294. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wackernagel_Geschichte_der_Stadt_Basel_Band_3.pdf/315&oldid=- (Version vom 1.8.2018)