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Verschiedene: Wünschelruthe

so sprach in ihm auch der Chor sie weniger aus, als sie schon in den Charakteren der Handelnden selbst lagen. Dabei ist es schwerlich zu denken, daß ein so unausgebildetes Theater, wie das ältere deutsche war, die für uns passende Idee des Chors einigermaßen andeuten könne; und so sehen wir zuerst einen Chor, obgleich auch sehr unvollkommen, in der Opitzischen Periode, und zwar weniger wichtig in den rohen Versuchen Joh. Klai’s, wo er dem griechischen nachgebildet seyn sollte, aber, obgleich nicht ohne lyrische Kraft, fast ganz charakterlos ist; – merkwürdiger hingegen bei Andreas Gryphius, der ihn dem Holländer van Vondel nachbildete. Hier ist der Chor ernst, wie es die angegebne Richtung des deutschen Geistes, verbunden mit einer Ahndung der von uns aufgestellten Idee des Chors mit sich bringt, aber ohne tiefere Bedeutung, da jede Abtheilung des Chors für sich dasteht, ohne Beziehung zu den übrigen, auch sich selten hinlänglich erhebend, weil er meistens entweder aus Hofleuten, begleitenden Jungfrauen und andern auf gewöhnliche Art betrachtenden und theilnehmenden Menschen besteht, oder, wenn dem Dichter etwas Höheres vorschwebte, Alles durch eine unselige Anwendung allegorischer Figuren, völlig ohne Individualität, verdorben wurde, die den Zuschauer auf diese Art ganz kalt lassen und in gar kein Verhältniß zu ihm zu bringen sind. Auch war die Verhütung eines solchen Mißstandes unvermeidlich zu einer Zeit wo die Deutschen oft absichtlich das Deutsche in einer erzwungenen Aneignung des Fremden suchten. Es ist erfreulich zu sehen, wie in einzelnen Augenblicken dann den wackern Dichter auch im Chore die Poesie wärmer durchdringt, und er eine über dem Stücke schwebende Idee lebendig und religiös darin ausspricht, obgleich wir zum Beweise dafür eher eine einzelne Strophe als eine ganze Abtheilung des Chors anführen könnten. Lohenstein übertrieb die Aufstellung allegorischer Gestalten, wie alle Fehler seines Meisters im Drama, bis zum Unerträglichen. – In neuern Zeiten ist besonders Schillers Versuch merkwürdig, den griechischen Chor modificirt auf das deutsche Theater zu bringen. Es ist genug darüber gesprochen; wir erwähnen nur, daß es der Hauptfehler dieses Chors ist, daß er eigentlich weder der griechische noch ein anderer war, und daß er, indem er nach der Absicht des Dichters durch seine Stellung der Handlung des Schauspiels gegenüber dem Zuschauer eine idealische Erhebung zu derselben leichter machen sollte, durch seine Stellung in der Handlung des Schauspiels selbst diese Wirkung wieder zerstörte. Daher konnte diese Art des Chors keinen allgemeinen Eingang finden, so wenig als alle bloßen Nachbildungen des griechischen, wie z. B. in Collins Polyxena u. s. w. – Weniger gehört hierher der bloß forterzählende Chor im ersten Theile von Tiecks Oktavian, weil das Stück wohl nie zum Aufführen bestimmt war, und man dem Chor auch etwas den Notbehelf für die undramatischeren Stellen der Erzählung ansieht, so daß er eigentlich nur dadurch eine tiefere poetische Bedeutung erhält, daß er von der Romanze und dem Schlaf, als der über den Personen des Schauspiels schwebenden Poesie, gesprochen wird, und gerade die wunderbarsten Theile der Geschichte enthält. Wir finden die Idee, von der wir bei diesem Aufsatz ausgingen, nirgends hervorspringender, als in den geistlichen Gesängen in Göthes Faust: nur paßt die Art ihrer Ausführung in denselben nicht zu einem stehenden Chor, weil eine bloße scheinbar zufällige höhere Einwirkung auf die Handlung durch eine natürliche, unmittelbar einen andern Zweck habende Sache, durch ganze Stücke wiederholt, etwas ermüdend Einförmiges erhalten müsste.

Das Einzelne was aus unserer Ansicht des Chores für seine innere und äußere Einrichtung hervorgeht, glauben wir zum Theil in dem bisher Gesagten angedeutet zu haben, zum Theil muß es auch dem Dichter überlassen bleiben, der es versuchen würde unsere Gedanken hiervon ins Leben treten zu lassen; doch müssen wir noch einiges davon näher berühren, um nicht in dem Verdachte zu stehen als schwärmten wir ganz ins Blaue, und begnügten uns mit einer neblichten allgemeinen Vorstellung, unbekümmert ob sie sich realisiren lasse oder nicht.

So wie die Poesie als die höhere Seite des Lebens mannichfach in die gewöhnliche Erscheinung desselben spricht, so kann der Chor in verschiedenen Gestalten der Handlung des Schauspiels entgegenstehen, die am Ende jedoch auf Ein Höchstes, auf eine geistig gesteigerte Natur hinauslaufen. Diese Gestalten sind modificirt nach dem Grundprinzip des Stücks, in welchem seine poetische Idee enthalten ist, so wie ihre Aeußerungen nach der Ausführung jenes Princips, oder dem Gange des Stücks. Das Prinzip nun kann so beschaffen seyn, daß der menschliche Wille gar keine Gewalt über dasselbe hat und es rein über ihm steht, wie wenn es Schicksal im höchsten Sinne des Worts, oder Vorsehung ist. Dann würde der Chor nach meiner Meinung am besten aus Wesen bestehen, die ebenfalls außer dem Kreise liegen welchen der Menschengeist zu überschauen vermag; aus Geistern, deren Art wieder nach der Erscheinungsart des Princips verschieden wäre. So würden z. B., wenn die Rache das Mittel ist welches das Schicksal zur Ausgleichung nach ewigem Recht ergriffen, die Geister der Erschlagnen, die gerächt werden sollen, seinen Willen im Chor verkünden können. In ähnlichen Fällen dürften auch allegorische Gestalten auftreten, aber nur wenn eine große Entfernung des Chors vom Zuschauer nötig würde und auch dann mit der höchsten Individualität

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Verschiedene:Wünschelruthe. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1818, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:W%C3%BCnschelruthe_Ein_Zeitblatt_034.jpg&oldid=- (Version vom 26.3.2019)