Seite:Von der Sprachfaehigkeit und dem Ursprung der Sprache 318.png

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

an; es wurde z. B. nicht gesagt: es hat sich zugetragen, sondern: es trägt sich vor so und so viel Tagen zu; nicht: es wird sich ereignen, sondern: es ereignet sich nach so viel Tagen. Diese Art sich auszudrücken war dem noch ungebildeten Menschen sehr natürlich. Vollkommene Präcision im Ausdrucke kündigt eine höhere Verstandscultur an, als man den ersten Erfindern der Sprache zuschreiben kann. Der ungebildete Mensch theilt nicht bloß das mit, was der andere von einer Sache wissen soll, oder will, sondern auch was er selbst davon weiß. Daher giebts in den uncultivirten Sprachen eine Menge überflüssiger Bestimmungen, eine Menge Ausdrücke, die, der Verständlichkeit des Ganzen unbeschadet, weggelassen werden könnten. So auch mit den Bestimmungen der Zeit. Die Zeit, in welcher etwas vorgegangen war, oder kommen sollte, wurde, so weit man zählen konnte, bestimmt hinzugesetzt. Wo, man aber auf einen Zeitraum stieß, welcher eine so genaue Bestimmung nicht zuließ, da bediente man sich, wie uns noch einige Spuren in alten Sprachen zeigen, der Worte: morgen, gestern u. s. w., um die verflossene oder zukünftige Zeit unbestimmt auszudrücken.


Aus dieser Bezeichnungsart mußten aber bald mehrere Mißverständnisse entstehen. Wie leicht konnte es Zwist verursachen, wenn der zweideutige Ausdruck morgen für den besondern Fall, in welchem er gebraucht wurde, nicht gehörig bestimmt war? Z. B. es sagte einer zum andern: ich gebe dir das morgen. Hier konnte morgen eben sowohl den nächstkünftigen,

Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottlieb Fichte: Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache. Hofbuchhändler Michaelis, Neu-Streelitz 1795, Seite 318. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Von_der_Sprachfaehigkeit_und_dem_Ursprung_der_Sprache_318.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)