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bekannt werden? Warum sollte doch der zweite und dritte Nachbar nicht die Freiheit gehabt haben, die Rose anders zu benennen? Mithin ließe sich aus dem Vorgetragenen nur erklären, wie die Sprache der Familie gebildet und erweitert wurde; nicht aber, wie die Sprache der ganzen Horde sich entwickeln konnte. — Dieser Einwurf läßt sich auf folgende Art auflösen.


Es wird unter uncultivirten Völkern immer wenige geben, welche Kopf und Lust genug besitzen, sich mit Ausbildung der Sprache vorzüglich zu beschäftigen. Daher werden diejenigen, welche Fähigkeit und Neigung zu diesem mühsamen Geschäfte zeigen, schon dadurch bald über die Horde großen Einfluß gewinnen. Wenn nun dieselbigen Menschen außer diesem Verdienste auch noch andere Talente besitzen, die sie zur Besorgung der öffentlichen Angelegenheiten ihres Volks geschickt machen, (und dies läßt sich um so leichter annehmen, da die Menschen, wie wir sie hier uns denken, noch nicht durch äußere Verhältnisse zu einer einseitigen Bildung verleitet, leicht von mehrern Seiten zugleich sich auszeichnen konnten): so werden sie bald an der Spitze der Horde stehen, und in ihren Rathsversammlungen das Wort führen. Diese werden nun die Bezeichnungen, die sie für die Bedürfnisse ihrer Familie erfunden hatten, in die Volksversammlung bringen; man wird sie annehmen und fortbrauchen. Auf diese Art wird sich die Erfindung eines Hausvaters bald durch die ganze Horde verbreiten.

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Johann Gottlieb Fichte: Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache. Hofbuchhändler Michaelis, Neu-Streelitz 1795, Seite 291. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Von_der_Sprachfaehigkeit_und_dem_Ursprung_der_Sprache_291.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)