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draußen auf dem Schnee nur lag trüber Mondschein. Außer dem Pendelschlag der Uhr war es todtenstill im Hause. Keine Kinder sangen in der kleinen Stube, kein Feuer prasselte in der Küche. Sie war ja ganz allein zurückgeblieben; die Andern waren alle, alle fort. – Aber was wollte die alte Uhr denn wieder? – Ja, da warnte es auf Elf – und ein anderer Weihnachtabend tauchte in Marthe’s Erinnerung auf, ach! ein ganz anderer; viele, viele Jahre später. Der Vater und die Brüder waren todt, die Schwestern verheiratet; die Mutter, welche nun mit Marthen allein geblieben war, hatte schon längst des Vaters Platz im braunen Lehnstuhl eingenommen und ihrer Tochter die kleinen Wirthschaftssorgen übertragen; denn sie kränkelte seit des Vaters Tode, ihr mildes Antlitz wurde immer blässer und ihre freundlichen Augen blickten immer matter; endlich mußte sie auch den Tag über im Bette bleiben. Das war schon über drei Wochen, und nun war es Weihnachtabend. Marthe saß an ihrem Bett und horchte auf den Athem der Schlummernden; es war todtenstill in der Kammer, nur die Uhr pickte. Da warnte es auf Elf, die Mutter schlug die Augen auf und verlangte zu trinken. »Marthe,« sagte sie, »wenn es erst Frühling wird und ich wieder zu Kräften gekommen bin, dann wollen wir Deine Schwester Hanne besuchen; ich habe ihre Kinder eben im Traume gesehen; – Du hast hier gar zu wenig Vergnügen.« – Die Mutter hatte ganz vergessen, daß Schwester Hanne’s Kinder im Spätherbst gestorben waren; Marthe erinnerte sie auch nicht daran; sie nickte schweigend mit dem Kopf und faßte ihre abgefallenen Hände. Die Uhr schlug Elf – auch jetzt schlug sie Elf, aber leise, wie aus weiter, weiter Ferne. – da hörte Marthe einen tiefen Athemzug; sie dachte, die Mutter wolle wieder schlafen. So blieb sie sitzen, lautlos, regungslos, die Hand der Mutter noch immer in der ihrigen; am Ende verfiel sie in einen schlummerähnlichen Zustand. Es mochte so eine Stunde vergangen seyn; da schlug die Uhr; Zwölf! – Das Licht war ausgebrannt, der Mond schien hell in’s Fenster; aus den Kissen sah das bleiche Gesicht der Mutter; Marthe hielt eine kalte Hand in der ihrigen. Sie ließ diese kalte Hand nicht los, sie saß die ganze Nacht bei der toten Mutter. – So saß sie jetzt bei ihren Erinnerungen in derselben Kammer, und die alte Uhr pickte bald laut, bald leise; sie wußte von Allem, sie hatte Alles mit erlebt, sie erinnerte Marthe an Alles, an ihre Leiden, an ihre kleinen Freuden. –

Ob es noch so gesellig in Marthe’s einsamer Kammer ist? Ich weiß es nicht; es sind viele Jahre her, seit ich in ihrem Hause wohnte,

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Theodor Storm: Marthe und ihre Uhr. Altona: Verlag der Expedition des Altonaer Mercur's, 1848, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Volksbuch_f%C3%BCr_Schleswig_Holstein_und_Lauenburg_1848_058.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)