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sie für ihre eigene Erhaltung gar nichts zu thun im Stande sind, wenn sie nicht einmal ein regelmäßiges parasitisches Verhältniß herzustellen vermögen. Dieß ist aber bei den Mikrocephalen der Fall. Ihr Blödsinn hindert sie, irgend eine Art von selbständiger Arbeit, welche auf Selbsterhaltung gerichtet wäre, zu leisten; sie sind auf die Ernährung durch die Familie, durch die Gesellschaft angewiesen. Ganz abgesehen von ihrer Unfähigkeit zur Fortpflanzung, also zur thatsächlichen Herstellung einer Art oder Spielart, ist ihr geistiger Zustand oder ihr Gehirn so mangelhaft, daß eine solche Art oder Spielart, auch wenn sie entstände, ohne allen Kampf um das Dasein sofort zu Grunde gehen würde. Wenn auch ihr „Verstand“ dem manches Affen nahe kommt, so fehlt ihnen doch der Instinkt, welcher schon bei dem neugebornen Affen in wunderbarer Weise wirksam wird und ihn zu Leistungen befähigt, welche ebenso zweckmäßig, als überraschend sind[1]. Davon ist bei dem mikrocephalen Blödsinnigen nichts wahrzunehmen: sein Zustand ist wesentlich der des Hirnmangels, der des Leidens, ohne daß ihm dafür ein Ersatz gewährt ist. Er ist ein durch Krankheit theilweise veränderter Mensch, aber kein Affe.

Eine theilweise, bloß örtliche Veränderung ist allerdings eine der gewöhnlichsten Erscheinungen auch bei der Bildung der Spielart oder der Rasse, und daher ist es einerseits so leicht, die natürlichen (physiologischen) Veränderungen mit den krankhaften (pathologischen) zu verwechseln, andererseits so nothwendig, beide in Beziehung zu einander zu betrachten. Es gilt dieß namentlich für die Untersuchung über das Wesen der Erblichkeit, über welches ich früher in diesem Sinne einige Bemerkungen veröffentlicht habe. Ich habe damals insbesondere nachgewiesen[2], daß die Erblichkeit sich nicht immer innerhalb der Rasse oder Art auf dieselbe Summe von Eigenschaften oder Merkmalen bezieht,


  1. [40] Alfr. Russel Wallace, Der malayische Archipel, die Heimath des Orang-Utan und des Paradiesvogels. Aus dem Engl. von A. B. Meyer. Braunschweig, 1869. Bd. I. S. 59.
  2. [40] Virchow, Ueber Erblichkeit. (Deutsche Jahrbücher für Politik und Literatur. Berlin, 1863. Bd. VI. S. 357.)
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Rudolf Virchow: Menschen- und Affenschädel. C. G. Lüderitz’sche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1870, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Virchow_-_Menschen-_und_Affensch%C3%A4del_-_32.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)