§. 1. Es ist unstreitig ein Vorurtheil, als wenn die Stärcke eines
Clavieristen in der blossen Geschwindigkeit bestünde. Man
kan die fertigsten Finger, einfache und doppelte Triller
haben, die Applicatur verstehen, vom Blatte treffen, es mögen
so viele Schlüssel im Laufe des Stückes vorkommen als sie wollen,
alles ohne viele Mühe aus dem Stegereif transponiren, Decimen,
ja Duodecimen greifen, Läufer und Kreutzsprünge von allerley
Arten machen können, und was dergleichen mehr ist; und
man kan bey dem allen noch nicht ein deutlicher, ein gefälliger,
ein rührender Clavieriste seyn. Die Erfahrung lehret es mehr
als zu oft, wie die Treffer und geschwinden Spieler von Profeßion
nichts weniger als diese Eigenschaften besitzen, wie sie zwar
durch die Finger das Gesicht in Verwunderung setzen, der empfindlichen
Seele eines Zuhörers aber gar nichts zu thun geben.
Sie überraschen das Ohr, ohne es zu vergnügen, und betäuben
den Verstand, ohne ihm genung zu thun. Ich spreche hiemit
dem Spielen aus dem Stegereif nicht sein gebührendes Lob ab.
Es ist rühmlich, eine Fertigkeit darinnen zu haben, und ich rathe
es selbst einem jeden aufs beste an. Es darf aber ein blosser
Treffer wohl nicht auf die wahrhaften Verdienste desjenigen
Ansprüche machen, der mehr das Ohr als das Gesicht, und
mehr das Hertz als das Ohr in eine sanfte Empfindung zu versetzen
und dahin, wo er will, zu reisen vermögend ist. Es ist
Carl Philipp Emanuel Bach: Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen – Erster Theil. Selbstverlag, Berlin 1759, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Versuch_%C3%BCber_die_wahre_Art_das_Clavier_zu_spielen_Teil_1_1759.pdf/109&oldid=- (Version vom 1.8.2018)