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selbstständiges Fortkommen und einen eigenen Heerd zu verschaffen.

Dahin geht eigentlich das Bestreben jedes tüchtigen Menschen; er will nicht als der Taglöhner eines Andern, er will für sich selbst arbeiten; er will die Früchte seiner Arbeit selbst genießen, nicht ein Anderer soll sie erndten.

Dieses Bemühen, eine eigene Familie zu gründen, und ihr wo möglich einigen Wohlstand zu bereiten, ist der wichtigste Antrieb zu redlichem Fleiße, zum Muthe und zur Ausdauer in den Unternehmungen, sowie das Mislingen dieser Bestrebungen die Quelle des bittersten Kummers und der meisten Vergehungen.

Die Emporkommenden sind es aber eben, sagt man, welche den Verdienst der zuvor Bestehenden an sich ziehen; der zunehmende Erwerb des Einen ist die Ursache der Verarmung des Andern. Diese Behauptung – in solcher Allgemeinheit – ist jedoch gewiß nicht wahr: der Aeltere hat immer einen großen Vorsprung vor dem Neuen; überdieß hat die vermehrte Bevölkerung auch vermehrte Bedürfnisse, und die Ausdehnung der Grenzen unsers Verkehrs fordert eine weit größere Menge von Arbeit und Waaren: allein eben so gewiß ist es doch und durch die Erfahrung bestätigt, daß Gewerbe und Handwerke, besonders solche, welche auf den örtlichen Absatz beschränkt sind, durch diese Uebersiedlungs- und Gewerbefreiheit in einzelnen Fällen schon so sehr übersetzt worden sind, daß das ehrliche Fortkommen eines mehr oder minder großen Theils derselben gar nicht mehr möglich ist.

Es darf daher mit Zuversicht auf die Zurücknahme der gesetzlichen Bestimmung gehofft werden, daß gegen ein Gesuch um bürgerliche Aufnahme der Grund nicht geltend gemacht werden dürfe, das Gewerbe des Bittstellers sey schon voran übersetzt: schützt man den Gewerbfleiß vor fremder Ueberconcurrenz, so darf er wohl auch Schutz vor der einheimischen erwarten: mögen auch die Gemeinde-Obrigkeiten allzu geneigt gewesen seyn, die Einwendung der Uebersetztheit gegen Bürgeraufnahmsgesuche vorzubringen, wodurch ohne Zweifel jene gesetzliche Bestimmung entstanden ist; so gibt es doch untrügliche Merkmale für diese Thatsache; so daß, wenn die Regierungsbehörden hierüber Nachforschungen anstellen wollen, sie leicht erforschen können, ob jene Einwendung in der Wirklichkeit begründet, oder ob sie eine blos vorgespiegelte sey.

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Christoph Leonhard Wolbach: Ulmische Zustände. Ernst Nübling, Ulm 1846, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ulmische_Zust%C3%A4nde_28.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)