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Die Bildsäule des Bacchus.

Kallisthenes, ein Jüngling zu Athen,
Kam einst, nach einer durchgeschwärmten Nacht,
Den welken Epheukranz um’s wilde Haar,
Hintaumelnd in der Dämmerung, nach Haus,

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Er selber, wie die Dämmrung, wüst und bleich.

Als nun der Diener nach dem Schlafgemach
Ihm leuchtet durch den hohen Säulengang,
Da tritt mit Eins im vollen Fackelschein
Des Bacchus göttlich Marmorbild hervor,

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Von schöpferischer Meisterhand geformt.

In Jugendfülle hebt sich die Gestalt,
Aus reichem, lang hinwallendem Gelock
Erglänzt das feingewölbte Schulternpaar,
Und unter’m Schatten üppigen Geflechts

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Von Rebenlaub und schwellender Traubenfrucht

Erscheint das runde, blühende Gesicht.
Erschrocken fährt Kallisthenes zurück
Vor der Erscheinung Herrlichkeit und Glanz,
Ihm ist, als hätte mit dem Thyrsusstab

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Der Gott die Stirne strafend ihm berührt,

Als spräche zürnend der belebte Mund.
„Was spuckst du hier, du wankendes Gespenst?
Ereb’scher Schatten, kraftlos, sinnbetäubt!
Du hast den heil’gen Epheu mir entweiht,

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Du nennest frevelnd meinen Priester dich;

Hinweg von mir! ich kenne deiner nicht.

Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Uhland: Gedichte von Ludwig Uhland (1815). J. G. Cotta, Stuttgart und Tübingen 1815, Seite 275. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:UhlandGedichte1815_0275.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)