Seite:UhlandGedichte1815 0191.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Die Lieder der Vorzeit.
1807.


Als Knabe stieg ich in die Hallen
Verlaßner Burgen oft hinan;
Durch alte Städte thät ich wallen,
Und sah die hohen Münster an.

5
Da war es, daß mit stillem Mahnen

Der Geist der Vorwelt bei mir stand,
Da ließ er frühe schon mich ahnen,
Was später ich in Büchern fand:

Daß Jungfraun dort von ew’gem Preise,

10
Die heil’gen Lieder, einst gewohnt,

Und in der Edelfrauen Kreise
Bei’m Feste des Gesangs gethront.
Da kam der Krieger wild Geschlechte
Und warf den Brand in’s frohe Haus.

15
Die Schwestern flohn im Graun der Nächte

Nach allen Seiten zagend aus.

Wie manche schmachtet, hart gefangen,
In eines Kerkers dunklem Grund!
Zu keinem milden Ohr gelangen

20
Die Kläng’ aus ihrem zarten Mund.

Ach! Jene, die auf öden Wegen
Umhergeirret, krank und müd,
Sie ist dem schweren Gram erlegen,
Und sang noch einmal, eh sie schied.

Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Uhland: Gedichte von Ludwig Uhland (1815). J. G. Cotta, Stuttgart und Tübingen 1815, Seite 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:UhlandGedichte1815_0191.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)