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v. Stendhal (Henry Beyle), Rot und Schwarz. Aus dem Französischen von Fr. v. Oppeln-Bronikowski. 2 Bde., brosch. Mk.6.-, geb. Mk. 8.—.

Christliche Welt: So besticht denn der Roman nicht durch prunkvolle Sprache, Farbenpracht der Bilder, überhaupt nicht durch Äußerlichkeiten. Ruhig, klar setzt Stendhal Strich neben Strich. Wer ihm folgt, wird nicht berauscht wie etwa von einem Tizianschen Gemälde, er wird langsam, aber je mehr er sich hingibt, um so tiefer gefesselt wie von einer meisterhaften Radierung.

Was kann so ein Buch aber gerade unserm Leserkreise sein? Mir scheint, es ist sehr heilsam, von Zeit zu Zeit ein kaltes Bad zu nehmen. Nun, dies Buch hat das Stählende eines solchen Bades.

Wir bekommen heutzutage immer mehr mit Menschen zu tun, die seelisch höchst kompliziert sind, die auch der Ethiker nicht mehr so ohne weiteres in eins der paar von Alters her gebräuchlichen Fächer stecken und dann fröhlich etikettieren kann. In „Rot und Schwarz“ werden solche Menschen dargestellt, namentlich in Julian und Mathilde, und mit außerordentlichen Fähigkeiten analysiert bis in die tiefsten psychischen Gründe und Abgründe. Daneben gelingt Stendhal freilich auch ganz vortrefflich eine so einfache, früher hätte man gesagt: echt weibliche Natur wie Frau von Renal, die Mutter der Zöglinge Julians.

Die Psychologie des ganzen Buches ist von einer fast grausamen Ehrlichkeit, Es lohnt immer, einem solchen Buch nicht aus dem Wege zu gehen. Von dem großen Wert, den es als zeitgeschichtliches Dokument, als „geschichtlicher“ Roman hat, brauche ich nicht mehr zu reden.

Jedem, der sich beim Don Quixote oder beim Grünen Heinrich nicht langweilt, wird auch „Rot und Schwarz“ etwas bedeuten.

Man muß ja nicht jedes Wort buchstäblich nehmen. „Ich rate aller Welt und selbst mir, mißtrauisch gegen mich zu sein,“ sagt Stendhal einmal, was mit denselben Worten auch Nietzsche gesagt haben könnte.

Hans Fischer.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 391. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_391.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)