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Er war weder dumm, noch geistreich; aber er hatte einen festen Charakter, nicht ohne gewisse hervorragende Züge von Tugend und Größe. Übrigens ist er der lymphatischste Mensch, den ich kenne; er hat eine leidlich hübsche Figur und ein einfaches, aber wunderbar ernstes Benehmen. Das genügt, um ihn allgemeine Achtung und Ehrenbezeugungen einzutragen.

Felicie sagte sich: „Das ist der Mann, der als mein Geliebter gelten soll. Da er der Kälteste von allen ist, wird seine Leidenschaft der höchste Triumph für mich sein.“

Weilberg, der Schwede, wurde ganz und gar Hausfreund. Im Sommer vor fünf Jahren unternahmen alle drei eine Reise.

Weil er ein außerordentlich stiller, strenger Mann war, und besonders, weil er nicht im geringsten in Felicie verliebt war, so sah er sie, wie sie war, in ihrer vollen Häßlichkeit. Übrigens wußte er bei der Abreise nicht, welche Rolle er spielen sollte. Der Gatte, den ihre Affektiertheit ärgerte, überließ sie, zumal er von dieser Reise, die er seiner Frau zu Gefallen unternahm, auch einigen geschäftlichen Vorteil haben wollte, sobald sie irgendwo ankamen, sich selbst, und besichtigte Fabriken, besuchte Hütten und Bergwerke und sagte dabei zu Weilberg: „Gustav, ich übergebe dir meine Frau!“

Weilberg sprach sehr schlecht französisch; er hatte weder Rousseau noch Frau von Staël je gelesen, ein Umstand, den Felicie bewunderte.

Die kleine Frau stellte sich also krank, um ihren Gatten durch Langeweile zu vertreiben und das Mitleid des gutmütigen jungen Mannes zu erregen, mit dem sie sich dauernd allein befand. Um ihn für sich

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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 331. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_331.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)