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alle Toilettenrechnungen von Leroy oder Lorcelet bezahlen. Dabei fand er ihre sinnlosen Ausgaben noch bescheiden.

Während der ersten zwei oder drei Jahre ihrer Ehe, bis zum zwanzigsten oder einundzwanzigsten Lebensjahre, hatte Felicie ihr Vergnügen allein in der Befriedigung folgender Eitelkeiten gefunden:

Schönere Toiletten zu haben, als alle anderen Frauen ihres Kreises;

die besten Diners zu geben;

mehr Schmeicheleien, als jene, für ihr Klavierspiel einzuernten, für geistreicher, als jene zu gelten.

Mit einundzwanzig Jahren begann sie die Gefühlvolle zu spielen. Sie war von einer atheistischen Mutter und in einem Kreise philosophischer Atheisten erzogen worden. Sie war genau einmal in der Kirche gewesen, bei ihrer Trauung, und auch das hatte sie kaum gewollt. Seit sie verheiratet war, las sie alle möglichen Bücher; Rousseau und Frau von Staël fielen ihr in die Hände. Das machte bei ihr Epoche, – ein Beweis, wie gefährlich Bücher sind.

Zunächst las sie „Emile“. Nach dieser Lektüre fühlte sie sich berechtigt, alle jungen Frauen ihrer Bekanntschaft in geistiger Hinsicht recht zu verachten. Wohlgemerkt, sie hatte kein Wort von der Metaphysik des savoyer Vikars verstanden. Rousseaus Sätze sind gut durchgearbeitet, scharfsinnig und sehr schwierig zu behalten. Sie begnügte sich also damit, gelegentlich eine Bemerkung über die Religion fallen zu lassen, um in einer gottlosen Gesellschaft, in der man eher über den König von Siam, als über solche Sachen gesprochen hätte, den Trumpf auszuspielen.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 329. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_329.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)