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es so vollständig an Geist fehlt. Trotzdem hatte er die technische Hochschule mit großem Erfolge besucht; dort habe ich ihn kennen gelernt. In dem Gesellschaftskreise, in dem Felicie aufgewachsen war, hatte man seine Verdienste kräftig herausgestrichen, um dadurch seine Dummheit in allem, mit Ausnahme seiner hervorragenden Begabung in der Leitung von Bergwerken und Hütten, zu bemänteln.

Ihr Gatte widmete sich ihr nach besten Kräften, was in diesem Falle wirklich sehr viel war. Aber er hatte es mit einem eiskalten Wesen zu tun, mit dem nichts zu machen war. Jene zärtliche Dankbarkeit, die Gatten selbst gleichgültigen Frauen einzuflößen pflegen, währte bei ihr keine acht Tage.

Bei diesem Zusammenleben merkte sie nur das eine, daß man ihr einen Dummkopf zum Partner gegeben hatte, und was noch viel schlimmer war: dieser Dummkopf machte sich mitunter in der Gesellschaft lächerlich. Sie fand, daß das Vergnügen, einen sehr reichen Mann geheiratet zu haben und häufige Schmeicheleien über die Verdienste ihres Gatten zu ernten, hierdurch reichlich bezahlt sei. Damit begann er bei ihr in Ungnade zu fallen.

Der Gatte, der nicht aus so guter Familie war, wie sie, dachte, sie spiele die Prinzessin. Nun wurde er seinerseits zurückhaltend. Doch da er ein außerordentlich beschäftigter und sehr anspruchsloser Mensch war, und weil er neben seiner Arbeit und seinen Maschinen an ihr die bequemste Frau besaß, versuchte er ab und zu, ihr ein wenig den Hof zu machen. Das war der Grund, weshalb ihr Mißfallen in Abneigung umschlug, zumal er seine Galanterien vor einem

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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 327. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_327.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)