Seite:Ueber die Liebe 326.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


Frau Gherardi würde in zwei Monaten die Theorien des Berzelius begriffen haben; Frau Felicie jedoch ist unfähig, die ersten Kapitel von Say oder die Lehre von den Kettenbrüchen zu verstehen. Sie hat in Deutschland einen ganz berühmten Lehrer in der Harmonie gehabt, aber nicht ein Wort davon erfaßt. Sie hat ein paar Stunden bei Redouté genommen und übertrifft in gewisser Hinsicht ihren Lehrer; ihre Rosen sind noch graziöser, als die jenes Künstlers. Ich habe beobachtet, wie sie mehrere Jahre lang Freude an ihrer Malerei hatte, aber niemals hat sie sich andere Gemälde angesehen, als die in den Kunstausstellungen; selbst als sie das Blumenmalen lernte, und sogar als wir noch die Meisterwerke der italienischen Malerei besaßen, kam es ihr nie in den Sinn, sie betrachten zu wollen. Sie versteht nichts von der Perspektive in einer Landschaft und nichts vom Helldunkel.

Diese Unfähigkeit des Verstandes, schwere Sachen zu begreifen, ist ein Zug der französischen Frauen; sobald etwas anfängt schwierig zu werden, wird es ihnen langweilig und sie lassen es links liegen.

Aus diesem Grunde wird auch Ihr Buch von der Liebe keinen Erfolg bei ihnen haben. Sie werden die Anekdoten lesen und die Folgerungen überschlagen und sich über alles Überschlagene lustig machen. Ich bin recht höflich, daß ich alles das in futuro sage.

Frau Felicie hat sich mit achtzehn Jahren standesgemäß verheiratet. Sie sah sich mit einem jungen Manne von dreißig Jahren vereint, der ein wenig lymphatisch und sanguinisch, jedenfalls aber nicht gallig und nervös war, dabei gutmütig, sanft, gleichmäßig und sehr dumm. Ich kenne niemanden, dem

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 326. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_326.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)