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Wenn man an die tadellose Sprachgenauigkeit der Physik gewöhnt ist, so stößt man sich leicht an der mangelhaften Ausdrucksweise in der Metaphysik.

Frau Felicie Féline ist also eine junge Französin von fünfundzwanzig Jahren: sie besitzt prächtige Landgüter und ein köstliches Schloß in Burgund. Sie selbst ist, wie Sie wissen, häßlich, aber von schöner Figur und lymphatisch-nervösem Temperament. Sie ist durchaus nicht dumm, aber sicher auch nicht geistreich. Im ganzen Leben hat sie keinen starken oder pikanten Gedanken gehabt. Weil sie von einer gebildeten Mutter und in sehr vornehmer Umgebung erzogen worden ist, steckt Methode in ihrem Verstand. Sie plaudert die Aussprüche anderer Leute wortgetreu nach, und wunderbar, genau wie eine eigene Leistung. Dabei heuchelt sie sogar jene feine Verwunderung, die wir über unsere eigenen Einfälle haben. So erscheint sie Leuten, die sie nur selten, oder auch beschränkten Menschen, die sie oft sehen, als reizende und überaus geistreiche Dame.

Für Musik hat sie genau die nämliche Art von Begabung, wie für Plauderei. Mit siebzehn Jahren spielte sie geläufig Klavier und so gut, daß sie hätte Unterricht die Stunde zu acht Franken erteilen können (was sie natürlich nicht tat, da sie sehr reich ist). Wenn sie eine Oper Rossinis gehört hat, vermag sie am anderen Tage die Hälfte daraus auf dem Klavier zu wiederholen. Infolge ihrer musikalischen Beanlagung trägt sie mit einem innigen Ausdrucke vor und spielt die schwierigsten Stücke vom Blatt herunter.

Aber gerade wegen dieser spielenden Auffassungsweise versteht sie schwierige Sachen nicht, weder in Büchern, noch in der Musik, Ich bin fest davon überzeugt,

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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 325. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_325.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)