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162.

Zweifellos ist es eine Torheit für den Menschen, sich der Liebe aus Leidenschaft auszusetzen. Aber manchmal wirkt das Gegenmittel zu kräftig. Die jungen Nordamerikanerinnen sind von vernünftigen Ideen so durchdrungen und gestählt, daß die Liebe, diese Blume des Lebens, ihrer Jugend fremd bleibt.


163.

Es ist ein gewöhnlicher Gedanke, den man gerade deshalb leicht vergißt, daß tagtäglich die fühlenden Seelen immer seltener und die Verstandesmenschen immer häufiger werden,


164.

Die wahre Liebe läßt den Gedanken an den Tod als etwas Alltägliches, Leichtes, Schreckenloses erscheinen, als einfachen Gegenstand der Vergleichung, als einen Preis, den man willig für mancherlei zahlen würde.


165.

Die Liebe ist die einzige Leidenschaft, die sich mit selbstgeprägter Münze bezahlt.


166.

Es ist ein köstlicher Genuß, eine Frau in die Arme zu schließen, die uns viel Böses angetan hat, die lange Zeit unsere grausame Feindin war und es jederzeit wieder werden kann.

Derartig war das Glück der französischen Offiziere 1812 in Spanien.


167.

Die Grausamkeit ist nichts weiter, als krankes Mitleid. Die Macht ist nur deshalb das höchste Glück nächst der Liebe, weil man glaubt, des Mitgefühls Herr zu sein.



Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 320. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_320.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)