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Diese Furcht, die Folgen einer zu zärtlichen Leidenschaft, oder in der Liebe aus Galanterie die falsche Scham, die aus einem maßlosen Wunsche zu gefallen und aus dem Mangel an Zuversicht entspringt, erweckt ein äußerst peinliches Gefühl, das einem unüberwindlich vorkommt und dessen man sich schämt. Wenn aber die Seele damit beschäftigt ist, Scham zu empfinden und diese zu überwinden, so kann sie sich nicht dem Genusse überlassen; denn ehe man an den Genuß, einen Luxus, zu denken vermag, muß das Gefühl der Sicherheit unbedingt sein.


140.

Das Schamgefühl ist eine der Quellen der Putzsucht; durch Anlegen von Schmuck erklärt eine Frau sich mehr oder weniger. Darum ist auch die Putzsucht im Alter so unangebracht. Eine Frau in der Provinz, die danach trachtet, die Pariser Moden mitzumachen, gibt falsche Versprechungen und macht sich lächerlich. Eine Kleinstädterin, die nach Paris kommt, muß sich anfangs kleiden, als ob sie dreißig Jahre alt sei.


141.

Das Gewöhnliche lähmt die Phantasie und verursacht bei mir sofort tödliche Langeweile.


142.

Genaueres Bekanntwerden zerstört mitunter die Kristallbildung. Ein reizendes, sechzehnjähriges junges Mädchen verliebte sich in einen schönen jungen Mann gleichen Alters, der es nicht versäumte, ihr jeden Abend zur Vesperstunde eine Fensterpromenade zu machen. Ihre Mutter lud ihn auf acht Tage nach ihrem Landgute ein. Ich gebe zu, daß das Mittel gewagt war, aber das junge Mädchen hatte eine romantische Seele

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 313. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_313.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)