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Liebeslieder singen. Die Dienstmädchen bringen ihnen solche Lieder bei, und ihre Mütter sagt ihnen, daß „Liebe“ und „Geliebter“ inhaltlose Wörter seien,


136.

Zart besaitete Seelen bedürfen einer Frau gegenüber der Ungezwungenheit, ehe sich ihre Liebe entwickelt.


137.

Der General Teulié sagte mir heute Abend, er hätte entdeckt, was ihn in Gesellschaft von affektierten Frauen so schrecklich wortkarg und kalt mache; er fühle sich hinterher bitter beschämt, vor solchen Geschöpfen seine Empfindungen mit Wärme offenbart zu haben.

Er war einer von den Menschen, die nichts zu sagen wissen, wenn sie nicht mit ganzer Seele reden dürfen. Er wußte selbst sehr gut, daß er sich auf die konventionelle Plauderei und den guten Ton nicht verstand. Dadurch war er in den Augen unnatürlicher Frauen wirklich lächerlich und unbegreiflich. Der Himmel hatte ihn nicht zum Gesellschaftsmenschen geschaffen.


138.

Vollkommene Natürlichkeit und völliges Vertrautsein sind nur in der Liebe aus Leidenschaft zu finden, denn in allen anderen Arten der Liebe denkt man an die Möglichkeit eines glücklicheren Rivalen.


139.

Je heftiger jemand verliebt ist, um so größere Gewalt muß er sich antun, um eine vertrauliche Berührung der Geliebten zu wagen und den Zorn eines Wesens herauszufordern, daß ihm wie eine Gottheit zugleich die größte Liebe und den höchsten Respekt einflößt.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 312. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_312.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)