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frei, reich und vielleicht auch nicht häßlich. Ich wünsche allen Frauen Messinas ein Gleiches.“ (Delfante.)


130.

In Italien überlassen sich die jungen Mädchen, wenn sie lieben, völlig den Eingebungen der Natur. Höchstens werden sie noch durch ein paar recht treffliche Lebensregeln beeinflußt, die sie beim Lauschen an den Türen gelernt haben.

Als ob es der Zufall so wollte, daß hier alles auf die Erhaltung der Natürlichkeit hinwirkt, lesen sie auch keine Romane, aus dem einfachen Grunde, weil es keine gibt.

In Genf und in Frankreich dagegen verlieben sich die jungen Mädchen mit sechzehn Jahren, um einen Roman zu erleben, und bei jedem Schritte und bei jeder Träne fragen sie sich: „Benehme ich mich jetzt auch so gut, wie Julie von Etanges?“


131.

Natürlichkeit. Heute Abend habe ich an einem jungen Mädchen, das allerdings einen großen Charakter zu haben scheint, den Triumph der Natürlichkeit gesehen oder glaube ihn wenigstens gesehen zu haben. Melanie verehrt augenscheinlich einen ihrer Vettern und ist sich auch ihres Herzenszustandes bewußt. Der Vetter liebt sie; aber, weil sie ihm gegenüber sehr ernst ist, denkt er, er gefalle ihr nicht, und läßt sich von den auffälligen Gunstbezeugungen Claras, einer jungen Witwe, der Freundin Melanies, fesseln. Ich glaube, er wird sie heiraten. Melanie sieht es und leidet alle Qualen, die ein stolzes und gegen seinen Willen von heftiger Leidenschaft erfülltes Herz erdulden kann. Sie

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 310. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_310.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)