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sehr verschieden. Im Gegensatz zu den Männern sind fast alle Frauen mindestens einer Art von Liebe fähig. Vom ersten Roman an, den eine Frau mit fünfzehn Jahren heimlich gelesen hat, wartet sie im stillen auf die Liebe. In einer großen Leidenschaft sucht sie den Beweis ihres Wertes. Diese Erwartung verdoppelt sich mit zwanzig Jahren, wenn die ersten Jugendtorheiten überwunden sind; die Männer dagegen meinen, wenn sie kaum dreißig Jahre alt sind, es gäbe keine Liebe oder sie sei lächerlich.


105.

Je mehr wir die Gehörnerven anspannen, um jede einzelne Note herauszuhören, um so sinnlicher sind wir im Genusse der Musik.


106.

Das Bild der ersten Liebe ist immer rührend. Warum? Weil es fast in allen Zonen und bei allen Charakteren gleich ist.

Daraus folgt, daß die erste Liebe nicht die leidenschaftlichste ist.


107.

Die erste Liebe eines jungen Mannes, der in die Welt tritt, ist gewöhnlich Liebe aus Eitelkeit. Selten wählt er ein sanftes, liebenswertes, unschuldiges junges Mädchen. Wie kann er zittern, anbeten, Empfindungen haben, außer vor einer Göttin? Ein junger Mensch muß ein Wesen lieben, dessen Eigenschaften ihn in seinen eigenen Augen erhöhen. Auf dem Abstieg des Lebens zweifelt man am Erhabenen und bescheidet sich, das Einfache und Unschuldige zu lieben. Zwischen beiden Gegensätzen liegt die wahre Liebe, die nur an sich selbst denkt.



Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 305. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_305.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)