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vergrößern oder vermindern sich je nach der Dauer der Leidenschaft; seelische Leiden werden durch die Zeit abgeschwächt. Wie viele untröstliche Witwen trösten sich mit der Zeit.

Nehmen wir einen Mann, der sich im Zustande der Gleichgültigkeit befindet, und es widerfährt ihm eine Freude. Ein anderer Mann befindet sich in einem Zustande heftigen Schmerzes, und dieser Schmerz hört plötzlich auf. Ist nun die Freude beider Menschen von gleicher Beschaffenheit? Ich sage: nein.

Nicht alle Freuden entstehen aus dem Aufhören des Schmerzes. Jemand, der lange Zeit hindurch sechstausend Franken Jahreseinnahme gehabt hat, gewinnt fünfhunderttausend Franken in der Lotterie. Dieser Mann war nicht daran gewöhnt, nach Dingen zu trachten, die man nur mit einem großen Vermögen erlangen kann. (Ich will beiläufig bemerken, daß es einer der Nachteile des Pariser Lebens ist, diese Gewohnheit mit Leichtigkeit zu verlieren.)

Man hat eine Maschine zum Schneiden der Gänsefedern erfunden. Ich habe sie mir heute Vormittag gekauft. Sie macht mir große Freude, denn ich hatte zum Federnschneiden keine Geduld. Aber trotzdem war ich gestern, wo ich diese Maschine noch nicht kannte, nicht unglücklich. War Petrarca unglücklich darüber, daß er den Kaffee nicht kannte?

Wozu das Glück definieren? Jedermann kennt es. Wir fühlen es, wenn wir das erste Rebhuhn im Fluge erlegt haben, wenn wir gesund und munter aus dem ersten Gefecht heimkehren …

Die Freude über das Aufhören eines Schmerzes ist sehr flüchtig, und die Erinnerung daran nicht einmal

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 299. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_299.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)