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Er wäre allzu liebenswert, wenn er sein strafbares Verlangen zu mäßigen verstanden hätte; übrigens trennt ein furchtbarer erblicher Haß seine Familie und die der Geliebten. Diese beiden Familien stehen an der Spitze zweier Parteien, die im schreckensvollen Mittelalter eine spanische Stadt mit Zwiespalt erfüllen. Sciolto, Calistas Vater, ist das Haupt der Partei, die augenblicklich die Oberhand hat. Er weiß, daß Lothario die ruchlose Absicht hat, seine Tochter zu verführen. Die schwache Calista erliegt den Qualen ihrer Schmach und Leidenschaft. Ihr Vater erreicht es, daß sein Feind Lothario den Oberbefehl über die Flotte erhält, die zu einer fernen und gefahrvollen Unternehmung ausläuft. Voraussichtlich wird er dabei den Tod finden. In Colardeaus Trauerspiel bringt der Vater seiner Tochter selbst diese Nachricht. Da verrät Calista ihre Leidenschaft:

‚… Mein Gott! er geht …
Ihr habt’s befohlen! … und er fügt sich drein?‘

Wie groß ist die Gefahr dieses Augenblicks! Ein Wort mehr, und Sciolto war über die Leidenschaft seiner Tochter zu Lothario im klaren. Der betroffene Vater ruft aus:

‚Was hör’ ich? Täuscht mein Ohr mich? Rasest du?‘

Darauf antwortet Calista, die ihre Selbstbeherrschung wiedergewonnen hat:

‚Nicht die Verbannung will ich, seinen Tod!
Er soll verderben! …‘

Durch diese Worte erstickt Calista den erwachenden Verdacht ihres Vaters und zwar ohne Betrug, denn

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 276. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_276.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)