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65. Vom Fiasko
(Aus dem Nachlasse hinzugefügt)

„Ich bin noch im Zweifel darüber,“ sagt Montaigne, „ob jene lächerlichen Unglücksfälle in der Liebe, deren die Welt so voll ist, daß von nichts anderem gesprochen wird, nicht von Angst und Schwäche herrühren, denn ich weiß aus Erfahrung, daß einer, für den ich einstehen kann wie für mich selbst, den nicht der geringste Verdacht von Schwäche trifft, und der auch nicht der Verzauberung zugänglich ist, von einem Freunde einst die Geschichte einer solchen außergewöhnlichen Ohnmacht erfuhr, die gerade im allerungeeignetsten Augenblick eintrat; und als er selbst in eine ähnliche Lage kam, da ward seine Phantasie durch jene Erzählung, die ihm auf der Stelle einfiel, derart beeinflußt, daß es ihm genau so erging. Seitdem verfiel er öfter in jene Schwäche, da ihn die Erinnerung an sein Unglück verzehrte und völlig beherrschte. Er fand gegen diesen Einfluß ein Heilmittel in einem anderen Einfluß. Er gestand sich nämlich selbst seine Niederlage ein und hielt sie sich vor Augen, nahm dieses Übel als etwas Erwartetes und milderte dadurch die Aufregung seines Gemütes, so daß jener Zwang nachließ und fortan minder auf ihm lastete …

„Wer das einmal kann, der wird seiner nicht wieder unfähig, außer durch richtige Schwäche. Jenes Unglück ist nur dann zu befürchten, wenn unsre Seele über alle Maßen gespannt ist von Verlangen und Ehrerbietung. Die Seele des Angreifers, die durch allerlei Aufregungen verwirrt ist, verliert leicht ihre Kraft …“


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 252. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_252.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)