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das Mißtrauen gegen andere noch fremd ist, beglückwünscht sich Don Juan im Überschwang seiner Gefühle und seines offenbaren Glücks, daß er nur an sich selbst denkt, während sich die anderen Männer für die Pflicht aufopfern. Er glaubt, die große Lebenskunst gefunden zu haben. Aber mitten in seinem Triumph, kaum dreißig Jahre alt, erkennt er mit Erstaunen, daß das Leben leer ist, und er empfindet einen wachsenden Ekel gegen das, was sein Genuß war. Don Juan gestand mir in Thorn in einem Anfall von Verstimmung: „Es gibt keine zwanzig verschiedene Arten von Frauen, und wenn man zwei oder drei von jeder Spielart gehabt hat, stellt sich Übersättigung ein.“ Ich antwortete: „Allein die Phantasie erhebt uns über diese Übersättigung. Jede Frau flößt ein anderes Interesse ein und mehr noch, die gleiche Frau kann man auf verschiedene Weise lieben, je nachdem sie der Zufall uns zwei oder drei Jahre früher oder später in den Weg führt und je nachdem der Zufall will, daß man sie liebt. Deine Art, die Frauen zu besitzen, tötet alle anderen Genüsse des Lebens, die Art Werthers verhundertfacht sie.“

Das Drama hat ein trauriges Ende. Wenn Don Juan alt wird, sieht man, wie er sich an den Dingen seiner eigenen Übersättigung festhält, nie an sich selbst. Man sieht, wie er vom Gifte, das ihn verzehrt, gequält wird, wie er Ablenkung sucht, wie er alle Augenblicke den Gegenstand wechselt. Aber wie glänzend das auch nach außen hin erscheinen mag, es ist doch im Grunde nur ein Wechsel des Leidens; er gibt sich ruhiger oder erregter Langeweile hin, das ist die einzige Wahl, die ihm bleibt.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_246.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)