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vielleicht sogar einer zarten Frau gefallen, wenn er ihr sein lockeres Leben aufrichtig zum Opfer bringt.

Aus allen diesen angeführten Gründen halten sich beide Arten die Wagschale. Ich selbst möchte Werther für glücklicher halten, weil er nicht wie Don Juan die Liebe zu einer gewöhnlichen Sache macht. Anstatt wie Werther die Wirklichkeit nach seinen Wünschen zu idealisieren, hat Don Juan ehrgeizige Wünsche, die sich in der kalten Wirklichkeit nur unvollkommen erfüllen. Anstatt sich in den zauberischen Träumen der Kristallbildung zu verlieren, denkt er wie ein General an den Erfolg seiner Manöver und tötet kurz gesagt die Liebe. Er genießt sie also keineswegs voller, als Werther, wie die große Menge vermutet.

Das eben Gesagte halte ich für einwandlos. Es gibt noch einen andren Grund dafür, wenigstens in meinen Augen, der aber dank der Bosheit der Vorsehung von den Männern verzeihlicherweise nicht anerkannt wird; es ist der, daß mir die Gewohnheit, gerecht zu sein, von Zufällen abgesehen, der sicherste Weg zur Erreichung des Glückes zu sein scheint, und die Werthers sind keine Verbrecher.

Um im Verbrechen glücklich zu sein, darf man kein Gewissen haben. Ich weiß nicht, ob es solche Wesen gibt, ich bin keinem begegnet und ich möchte sogar wetten, daß das Abenteuer mit Frau Michelin den Herzog von Richelieu schlaflose Nächte bereitet hat. Man müßte, was unmöglich ist, gar kein Mitgefühl haben und fähig sein, das ganze Menschengeschlecht in den Tod zu schicken.

Wer die Liebe nur aus Romanen kennt, wird einen natürlichen Widerwillen empfinden, wenn er diese

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 244. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_244.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)