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suchte sich aus Eitelkeit dafür zu rächen; im Gegenteil, er freute sich köstlich darüber wie über eine Quelle des Glücks. Bei diesem liebenswürdigen jungen Manne war die Liebe aus Galanterie völlig von der nagenden Eitelkeit frei, sie war eine schwächere, aber reine und unvermischte Abart der wahren Liebe, und er achtete alle Frauen als entzückende Wesen, gegen die wir allzu ungerecht sind.

Da man sich sein Temperament, das heißt seine Seele, nicht willkürlich wählen kann, so muß man die einem zugeteilte Rolle spielen. Rousseau und der Herzog von Richelieu hätten sich bei allen ihren geistigen Fähigkeiten noch so anstrengen können, sie hätten doch niemals ihr Verhältnis zu den Frauen zu ändern vermocht. Ich glaube gern, daß Richelieu niemals solche Augenblicke erlebt hat, wie Rousseau im Park des Schlosses Chevrette bei Frau von Houdetot, oder in Venedig, als er der Musik der Scuole lauschte, oder in Turin zu Füßen der Frau Bazile. Dafür brauchte er auch nie über die Lächerlichkeit zu erröten, die Rousseau bei Frau von Larnage auf sich lud und deren Reue ihn bis zum Ende seines Lebens quälte.

Die Rolle Werthers ist sanfter und läßt keinen Augenblick des Daseins unausgefüllt; aber man muß zugeben, die eines Don Juans ist glänzender. Wenn Werther in der Mitte seines Lebens den Geschmack ändern wollte, so würde er bei seiner Einsamkeit und Zurückgezogenheit und mit seinen träumerischen Gewohnheiten im Theater der großen Gesellschaft auf dem letzten Platze sitzen. Don Juan hingegen genießt einen vorzüglichen Ruf unter den Männern und kann

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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 243. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_243.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)