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zu denken. Junge Mädchen von ausgelassenster Fröhlichkeit werden nach kaum einem Jahre die langweiligsten Frauen.

Als Schlußwort über die Ehen in Deutschland füge ich hinzu, daß die Mitgift der Frauen infolge des Erbrechtes gleich Null ist. Ein Fräulein von D***, deren Vater vierzigtausend Mark Jahreseinkünfte hat, erhält vielleicht zweitausend Taler Mitgift.

Die Mitgift wird durch die Eitelkeit auf die Hoffähigkeit ersetzt. Man könnte im Bürgerstande Partien mit hunderttausend und hundertfünfzigtausend Talern finden, aber dann wäre man nicht mehr hoffähig und von allen Gesellschaften, wo Prinzen oder Prinzessinnen erscheinen, ausgeschlossen, und „das ist entsetzlich“, sagte mir jemand aus vollstem Herzen.

Eine deutsche Frau, seelenvoll und geistreich, mit edlen und feinen Zügen und dem Feuer der Jugend, anständig und infolge der hiesigen Sitten auch natürlich und aus dem gleichen Grunde nicht über das nützliche Maß religiös, vermag ohne Zweifel ihren Gatten sehr glücklich zu machen. Darf man aber hoffen, daß sie unter all diesen stumpfsinnigen Müttern so bleibt?

„Er war doch verheiratet!“ antwortete sie mir heute Morgen, als ich Lord Oswald, den Geliebten der Corinne, wegen seines vierjährigen Schweigens tadelte. Bis drei Uhr früh hatte sie in „Corinne“ gelesen. Der Roman hatte sie tief erregt, und doch antwortete sie mir in rührender Aufrichtigkeit: „Er war doch verheiratet!“


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_238.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)