Seite:Ueber die Liebe 233.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


Es ist eins der schönsten Vorrechte des Geistes, im Alter Achtung zu genießen. Die Ankunft Voltaires in Paris ließ selbst die Majestät erbleichen. Die armen Frauen aber haben, wenn der Glanz ihrer Jugend vorüber ist, nur ein einziges, trauriges Glück: sich Selbsttäuschungen über ihre Rolle in der Welt hinzugeben. Die Trümmer ihrer Jugendmacht sind nur lächerlich, und für unsere heutigen Frauen wäre es ein Glück, wenn sie mit fünfzig Jahren stürben.

Bei richtiger Lebensanschauung erkennt man um so klarer, je mehr Geist man hat, daß die Gerechtigkeit der einzige Weg zum Glück ist. Genie ist eine Macht, aber noch mehr eine Leuchte, um die große Kunst des Glücklichseins zu finden.

Die meisten Menschen haben in ihrem Leben einen Augenblick, wo sie Großes leisten könnten und wo ihnen nichts unmöglich erscheint. Durch die Unwissenheit der Frauen geht dieser glänzende Augenblick dem Männergeschlecht unausgenutzt verloren. Allenfalls bewirkt es die Liebe, daß wir anständig zu Pferd sitzen oder in der Wahl unseres Schneiders geschickt sind.

Ich habe nicht die Zeit, meinen Standpunkt der Kritik gegenüber zu verteidigen. Wenn ich die Macht hätte, Vorschriften zu erteilen, so würde ich den jungen Mädchen möglichst genau dieselbe Erziehung angedeihen lassen, wie den Knaben. Wenn auch die heutige Erziehung der Knaben nicht ganz richtig ist, – man unterrichtet sie nicht in den wichtigsten Wissenschaften, in der Logik und Ethik, – so ist es doch immer noch besser, die jungen Mädchen ebenso zu erziehen, als sie nur Musik, Malen und Sticken zu lehren.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 233. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_233.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)